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Vorwort des Herausgebers

  • Mittwoch, 28 Oktober 2020 12:34
Vorwort des Herausgebers

Vorwort

Im Herbst 2015 - nachdem wir das siebenjährige Studium des Buddhismus am Tibetischen Zentrum in Hamburg im Lehrgang VIII absolviert hatten – machte unser Dharmafreund Marco Axmann in einer E-Mail an einen Kreis der AbsolventInnen unseres Lehrganges den Vorschlag, Dje Tsong-kha-pas (1357 – 1419) Langfassung des Lam-rim – den sogenannten Lam-rim-chen-mo - gemeinsam zu lesen, zu studieren und zu meditieren. Der Lam rim chen mo ist überaus bedeutsam für den tibetischen Buddhismus - weshalb der Dalai Lama ihn bei der Flucht aus Tibet 1959 mit im Gepäck gehabt haben soll – da Dje Tsong-kha-pa mit dieser und weiteren Schriften die Gelug-pa Tradition des tibetischen Buddhismus begründet hat. (Über Dje Tsong-kha-pa empfehlen wir die sehr gute Biografie: Tsongkhapa: A Buddha in the Land of Snows von Thupten Jinpa). Inspiriert von der Idee, den Text zu studieren, fahndeten wir nach einer deutschen Textversion und fanden heraus, dass es sie noch nicht gab. Verfügbar waren die tibetische, russische sowie englische Textversion: The Great Treatise on the Stages of the Path to Enlightenment, die von einem fünfzehnköpfigen US-amerikanischen Team buddhistisch Lehrender in 8-jähriger Arbeit aus dem Tibetischen übersetzt und im Jahr 2000 im Snow Lion Verlag, USA, veröffentlicht worden war.

Guten Mutes luden wir weitere AbsolventInnen unseres Lehrganges ein und verabredeten ein erstes Treffen für den Frühsommer 2016. Da jedoch manche der Interessierten sich in der Englischen Sprache nicht ausreichend sicher fühlten, um eine so anspruchsvolle Schrift zu studieren, begannen wir im Frühjahr 2016 mit ersten Übersetzungsversuchen der Inhaltsangabe dieses mehrbändigen Werkes - das etwa 1000 Seiten umfasst – auch weil in der tibetischen Tradition das Auswendiglernen der Inhaltsangabe einer Schrift als Einstieg empfohlen wird. Im Zuge dieser Arbeit entdeckten wir Schritt für Schritt - wie bei einer archäologischen Ausgrabungsarbeit - dass wir ein Juwel der Dharmaliteratur in unseren Händen hielten, beeindruckend aufgrund der sprachlichen Präzision und Klarheit der gegebene Anleitungen – als würde Dje Tsong-kha-pa persönlich unterrichten. Während unseres ersten Treffens im Sommer 2016 machte ich daher den Vorschlag, diese Schrift vollständig ins Deutsche zu übertragen, um es allen deutschsprachig Interessierten zugänglich machen zu können. Im Januar 2017 trugen wir diese Idee unserem tibetischen Lehrer Khen Rinpoche Geshe Pema Samten vor, geistlicher Leiter der Tibetischen Zentren in Hamburg und Hannover sowie Abt des Kloster Dargye in Tibet, der uns, hocherfreut über unsere Aktivitäten, seinen Segen gab und uns Unterstützung zusicherte.

Von dieser Idee bis zur Realisierung des ersten Bandes waren nun etwas mehr als drei Jahre Arbeit erforderlich – die beste Arbeit, die ich je ausführen durfte und die wir als Team in verschiedenen Zusammensetzungen mit den je individuell möglichen Arbeitskapazitäten absolviert haben. Zum Team gehören in alphabetischer Reihenfolge: Marco Axmann, Jens Grotefendt, Diane Groß, Manuela Klesy, Hans Korfmacher, Arthur Schaufler, Oliver Simon und Margit Stephan.

Nachdem wir die ersten Entwürfen für die Inhaltsangabe geschrieben hatten, stellten wir fest, dass eine Übersetzung aus dem Englischen nicht ausreichen würde, um ein korrektes Verständnis zu erlangen, da – wie in jeder Sprache – mit einem englischen Begriff diverse Bedeutungsinhalte (Konnotationen) transportiert werden. Schmunzelnd erinnere ich mich an ein Zitat des deutschen Philosophen und Sprachwissenschaftlers Walter Benjamin (1892 – 1940), der im Essay Die Aufgabe des Übersetzers (S. 63) auf diese Schwierigkeiten mit einer grandiosen Metapher hingewiesen hatte:

„Wie die Tangente den Kreis flüchtig und nur in einem Punkt berührt

und wie ihr wohl diese Berührung, nicht aber der Punkt, das Gesetz vorschreibt,

so berührt die Übersetzung flüchtig und nur im unendlich kleinen Punkt des Sinns den Text eines Originals.“

Sich einem Originaltext anzunähern und ihn in eine andere Sprache zu übertragen, erfordert vielmehr als nur solide Sprachkenntnisse. Übertragende müssen sich in die Gefühle (skr.: vedanā), begrifflichen Unterscheidungen (skr.: samjña), resultierenden Weltbildern (skr.: samskāra) sowie Philosophien und Lebenshaltungen (skr.: vijñana) der Schreibenden einfühlen und hineindenken. Originalschriften sind aus vielen Perspektiven zu beleuchten. Traditionen und begriffliche Konnotationen sind in Analysen einzubeziehen. Doch wie sollten wir diesen Anspruch bei einem solch anspruchsvollen Werk bewerkstelligen?

Wir entschieden uns, weiterhin primär aus dem Englischen zu übersetzen, da dies eine recht zügige Arbeit ermöglichte, und sodann den deutschen Entwurf mit der tibetischen Version abzugleichen. Bei begrifflichen Fragen haben wir diese zunächst mit dem tibetischen Mönch Gen Lobsang Choejor diskutiert, der zum Sangha am Tibetischen Zentrum in Hamburg gehört, sowie mit Geshe Sönam Namgyäl, der seit Sommer 2019 in Hamburg tätig ist. Darüber hinaus konnten einige Kapitel mit der russischen Textversion verglichen werden, da ein Teammitglied der russische Sprache fähig ist. Mit dieser mehrsprachigen Vergleichsmethode sowie einer nahezu ständigen Meditation über den Text und damit über die Botschaften, die Dje Tsong-kha-pa uns - den Studierenden - vermitteln wollte, gelang es uns, die nun vorliegende Übertragung ins Deutsche vorzulegen. Wir nennen es bewusst eine Übertragung ins Deutsche, weil wir uns inhaltlich dem Originaltext wie auf einer Tangente angenähert haben - aber keine wortwörtliche Übersetzung vorlegen können und wollen. Unser Motiv ist vielmehr davon geprägt, Interessierten eine sprachlich intuitive Form der Anleitungen Dje Tsong-kha-pas bereitzustellen.

Die Schwierigkeiten mit einer Übertragung ins Deutsche werden an folgendem Beispiel deutlich: Der Titel des 7. Kapitels lautet im Englischen A human life of leisure and opportunity. Die gängige Übersetzung würde lauten: Ein menschliches Leben mit Muße und Möglichkeiten. Doch wir fühlten uns intuitiv unwohl mit diesen zwei Begriffen, nahmen einen subtilen Widerspruch zu den Inhalten des 7. Kapitels wahr. Also besprachen wir mit dies Geshe Sönam Namgyäl, um herauszufinden was Dje Tsong-kha-pa mit diesem Kapitel sagen wollte: Es sind die Freiräume und begünstigenden Bedingungen eines Menschenlebens, wodurch wir den Pfad finden und gehen können. Auch wenn wir damit von bisherigen Übersetzungen dieser Textpassage abweichen, haben wir uns für diese Begrifflichkeit entschieden.

Ein weiteres Problem, das besonders bei der Übertragung spiritueller Texte auftritt, sind theistisch geprägte Konnotationen, die wir - die alle in einer theistisch geprägten Welt aufwuchsen - mit Begriffen wie Götter, Gottheiten oder Gebeten intuitiv und spontan verbinden. Dabei hat aber beispielsweise der Sanskrit Begriff devá mit dem theistischen Begriff Gott oder deity nichts gemeinsam. devá benennt ein Lebewesen, das in einem Daseinsbereich äußerst lange - etwa 2500 Menschenjahre - und nahezu frei von Leiden lebt, aber die Buddhaschaft nicht erreichen kann. devá vermittelt nicht die theistische Idee eines erschaffenden, bestrafenden und ewig lebenden Gottes. Daher haben wir die Begriffe Langlebigkeitswesen für weltliche Götter und Halbgötter sowie transzendente Meditationswesen für überweltliche tantrische Gottheiten eingeführt.

Im Zuge der Übertragung ins Deutsche kamen wir überdies zur Einsicht, dass die Nutzung von Sanskrit-Begriffen wie śunyata svabhāva (dt.: etwas ist leer von inhärenter Existenz oder Leersein von Eigenexistenz), rāga (dt.: anhaftendes Verlangen), prātigha (dt.: vernichten wollender Hass), pratitya samutpāda (dt.: abhängig fließendes Werden) usw. hilfreich für das Verständnis des Textes sind. Denn mittels dieser Begriffe wird eine Beziehung zu den indisch-buddhistischen Hauptwerken Nāgārjunas Mula-madhyamaka-karika und Asagas Abhidharma-samuccaya – beide als gute englische Textversionen erhältlich – hergestellt, wodurch die Fortführung der Überlieferungslinie von Buddha über Nagarjuna und Asaga bis hin zu Dje Tsong-kha-pa sichtbar wird. Für die Schreibweise der Sanskrit-Begriffe – meist in Klammern gesetzt - haben wir uns für die Form der Petersburger Wörterbücher von 1855 - 1875 entschieden, die etwa im Sanskrit-Wörterbuch Sanskrit-Deutsch von Klaus Mylius verwendet werden. Ein erläuterndes Glossar zu den verwendeten Begriffen in Sanskrit und Tibetisch stellen wir im Januar 2020 online unter www.dharma-university-press.org.

Um das Ziel erreichen zu können, Interessierten eine sprachlich intuitive Form der Anleitungen Dje Tsong-kha-pas zu schenken, entschieden wir uns überdies für eine moderne und geschlechtergerechte Sprache. Zum Einen, um die Gleichwertigkeit aller Wesen – egal welchen Geschlechts – zum Ausdruck zu bringen und so für Frauen den Zugang zum Text zu erleichtern. Menschen weiblichen Geschlechts fühlen sich natürlicherweise kaum angesprochen, wenn sie mit er angesprochen werden, da die männliche Sprachform vornehmlich Menschen männlichen Geschlechts anspricht; auch die vorgeblich neutrale Argumentation für ein generelles Maskulinum ist nicht tragfähig. Zum Zweiten wollten wir einen guten Lesefluss erreichen, um das Studium des Textes sprachlich zur Freude werden zu lassen, sodass der intuitive Eingang der Anleitungen Dje Tsong-kha-pas ohne sprachliche Hindernisse möglich wird. Wir sind sicher, dass er dies heutzutage ebenso handhaben würde.

Schließlich wollen wir auf eine Anmerkung des portugiesischen Philosoph Baruch Spinoza (1631 – 1677) hinweisen, die er bei der Vorstellung seiner Schriften in den Niederlanden formuliert hatte:

„Ich weiß, dass ich ein Mensch bin und irren kann.“

Dieser produktiven Selbstkritik schließen wir uns an und bitten Studierende von Die große Darlegung des Stufenweges auf dem Pfad zur Erleuchtung uns – auf vermutlich vorhandene - Fehler und/oder Fehlinterpretationen von Textpassagen, Begrifflichkeiten usw. hinzuweisen und uns ihre Gedanken diesbezüglich mit zu teilen, sodass eine sprachlich verbesserte Klarheit in den Botschaften von Dje Tsong-kha-pa in der Übertragung ins Deutsche mit den Jahren entwickelt werden kann – was nachfolgend notwendige Meditationen unterstützt. Hierzu werden wir – trotz aller berechtigten Bedenken hinsichtlich des Mediums Soziale Netzwerke – auf der Facebookseite www.facebook.com/dharmauniversitypress ab Januar 2020 regelmäßig Passagen des Lam-rim-chen-mo veröffentlichen, sodass diese dort ansatzweise gemeinsam reflektiert werden können – wobei wir eine Begriffsschlacht vermeiden wollen – um die je individuellen Meditationen über den Lam rim chen mo zu unterstützen. Konstruktive Kritik und Fragen nehmen wir auch per E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! entgegen, die wir nach einer Validierung in kommenden Auflagen berücksichtigen werden. Hingewiesen sei auch auf die mehrjährigen Kurse über den Lam-rim, die in den Tibetischen Zentren in Hamburg und Hannover ab Ende 2019 anlaufen.

Die Einsicht, dass wir uns irren können, hat obendrein auch zur Entscheidung für das hierzulande ungewöhnliche Pecha-Format dieses Buches geführt. Pecha benennt im Tibetischen ein Buchformat, in dem seit vielen Jahrhunderten in tibetischen Klöstern Schriften hergestellt werden. Wir präsentieren den Text in diesem Format (Außenmaß: 33 x 13,5 cm), einer nichtgebundenen Sammlung von 165 zweiseitig bedruckten Blättern, die zwischen zwei Eichenhölzern liegen und mit einer Kordel verschlossen in Tüchern eingewickelt sind. Die Tücher wurden im tibetischen Kloster Sera-je, Südindien, angefertigt – was eine Anbindung der äußeren Form an die Überlieferungslinie symbolisiert, da das Kloster Sera Je im 15. Jahrhundert von Jetsun Kunkhen Lodroe Rinchen Senge, einem Schüler von Dje Tsong-kha-pa, gegründet worden war. Nach der Flucht des Dalai Lama 1959 aus Tibet wurde es 1980 in Südindien als Kloster der Gelug-Tradition – der auch der Dalai-Lama angehört - neu errichtet. So erhalten Studierende die Möglichkeit einer Leseerfahrung, die Mönche in tibetischen Klöstern seit 600 Jahren erleben dürfen. Und bei der antizipierten Überarbeitung der 1. Auflage können wir so Änderungen Blatt für Blatt vornehmen und diese zur Verfügung stellen.

Die Übertragung der Bände II. und III. haben wir uns für die kommenden Jahre vorgenommen – vermutlich werden sechs oder mehr Jahre benötigt. Alle, die diesen Prozess qualifiziert unterstützen wollen – durch Spenden, Übertragungsarbeiten usw. - sind herzlich eingeladen und können sich per E-Mail bei uns melden. Abschließend noch zwei weitere Hinweise: Das Copyright, welches bei der dharma-university-press.org liegt, haben wir bewusst so formuliert, dass eine Vervielfältigung des Textes für nicht-gewerbliche und nicht-kommerzielle Zwecke unter Angabe der Originalquelle ausdrücklich erwünscht ist – damit viele Interessierte einen Zugang zu dieser Schrift bekommen. Eine Vervielfältigung zu gewerblichen und kommerziellen Zwecken bleibt hingegen ebenso untersagt wie eine Veränderung der Texte, um eine sprachlich einheitliche Form der Gesamtausgabe zu gewährleisten.

Die Preisgestaltung dieser 1. Auflage wurde so konzipiert, dass mit den Überschüssen je zur Hälfte das neue Dharma-College zur Ausbildung von Dharma-Lehrenden am Tibetischen Zentrum in Hamburg sowie das von Khen Rinpoche Geshe Pema Samten in Tibet betreute Kloster Dargye unterstützt werden. Das Kloster Tashi Dargye wurde 1663 auf Initiative des Fünften Dalai Lama (1617 – 1682) gegründet. Es entwickelte sich zu einer anerkannten Ausbildungsstätte und wurde über die Grenzen Dargyes hinaus in Tibet berühmt. Wer hier als Mönch eintrat, konnte die umfangreiche und tiefgründige tibetisch buddhistische Philosophie studieren und praktizieren. In seinen Blütezeiten lebten im Tashi Dargye Kloster mehr als zweitausend Mönche. Im Sommer 2018 fand dort ein Debatten-Marathon mit etwa 10.000 Mönchen statt. (Mehr über das Kloster findet sich auf www.tashi-dargye.de.) Es ist ein weiterer Verbindungsfaden zur Überlieferungslinie.

 

Mögen alle Studierenden mit Hilfe dieser Schrift zügig den Eintritt in den Stufenweg auf dem Pfad zur Erleuchtung finden

Tashi Delek

Hans Korfmacher (Herausgeber),

Neuss, im Dezember 2019

 

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