Geist und Glück

Geist und Glück

Alle Menschen und alle anderen fühlenden Wesen - etwa die vielen tausenden Tierarten - befinden sich seit jeher auf der Suche nach Glück. Denn Leid zu erfahren ist nicht angenehm – egal ob als Mensch oder Tier – und kein anstrebenswerter Zustand. Jedoch scheinen wir Menschen beim Streben nach Glück ständig schwerwiegende Fehler zu begehen, warum kaum ein Mensch durchgängig Glück erlebt. Damit aber erheben sich wichtige Fragen:

Was machen wir falsch, um Glück zu erleben?
Warum verfügen wir nicht über die Ursachen für das sehnlichst angestrebte Glück?
Wie können wir diese Ursachen bewirken? Gibt es Gewohnheiten, die uns im Wege stehen und aufzugeben sind?

Solches Fragen beschreibt sicherlich auch das Motiv von Prinz Siddharta (563-483 v. Chr.), der vor etwa 2580 Jahren den Palast seine Vaters und seine Familie verlassen hatte, um die Ursachen der Leiden und deren Beseitigung zu erforschen. Denn er hatte erkannt, dass eine solche Forschungsarbeit in einem schönen Palast voll Prunk und Wohlstand unmöglich sein würde, weil die Leiden vor allem vor den Toren des Palastes in den Gassen der Städte tobten. Im Alter von etwa siebenundzwanzig Jahren wurde ihm klar:

Um die Ursachen für Glück zu finden,
müssen die Leiden und deren Ursachen untersucht werden.

So entzog er sich dem materiellen Wohlstand des Palastes mit der extremen Lebensweise der Askese. Doch weil sein Körper nach einigen Jahren unter der Askese so schwer gelitten hatte, dass ihm der Tod drohte, wurde im bewusst, dass Askese kein angemessenes Heilmittel ist. Denn mit einem mangelernährten, vernachlässigten Körper ist niemand in der Lage, Glück zu erleben geschweige den Ursachen für Glück zu bewirken. Immerhin erlernte er in der Zeit der Askese mit seinen Freunden verschiedene Mediationsformen. In meditativen Versenkungszuständen erfuhr er schließlich, dass die Ursachen für Glück im Geist zu finden sind. So begann er die Untersuchung seines Geistes und stellte sich - wie alle Philosophierenden vor und nach - grundlegende Frage:

Was sind Wahrnehmungen und welche Rolle haben die Sinne?
Welche Informationen erhalten wir aus den Sinnesdaten
und welche Bedeutung haben sie für Glück oder Leid?

Welche Bedeutung habe Gefühle, Gedanken, Ideen
für die Wahrnehmung der Welt? Ist die Welt
wirklich vorhanden oder eine Illusion?

Anhand vieler weiterer Fragen unternahm er für mehrere Jahre eine introspektive Untersuchung dessen, was wir heute Geist nennen und in der Sprache der indischen Philosophie – Sanskrit – cittá genannt wird. Interessant ist in diesem Kontext, dass der Begriff cittá sowohl Geist als auch Herz bedeutet.

In Griechenland unternahmen zu gleichen Zeit Philosophierende wie Heraklit ähnliche Untersuchungen. Sie bezeichneten den Geist mit dem Begriff psyche, den Homer um 800 v. Chr. geprägt hatte, und die Tätigkeiten des Geistes als noein, was wir in unserer Sprache Denken nennen. Doch was Buddha an Erkenntnis über den Geist in wenigen Jahren erfuhr, ist der westlichen Philosophie und der modernen Neurowissenschaften bis heute nicht gelungen. Nichtsdestotrotz sind viele westliche Untersuchungsmethoden und Ergebnisse der Philosophie und auch der Psychologie  und Neurowissenschaften von großer Bedeutung für das Ziel, die Ursachen der Leiden zu erkennen, damit wir sie beseitigen können und über Ursachen für Glück zu verfügen. Überdies können wir aus dem Vergleich der buddhistischen mit den westlichen Denkergebnisse Schlüsse für die eigenen Wege ziehen, auf denen wir das angestrebte Ziel erreichen werden.

Der 14. Dalai Lama, der tibetische Mönch Ngawang Lobsang Tenzin Gyatso (Jahrgang 1935), weist aus der für uns kulturell ungewohnten buddhistischen Perspektive darauf hin, dass Buddha Śakyamunis (563 – 483 v. Chr.) Lehre – die wir gemeinhin Buddhismus nennen – eine tiefgründige Wissenschaft des Geistes ist. Er weist immer wieder auf die Bedeutung des Geistes für ein glückliches Leben hin:

„Ohne ein Wissen über den Geist (skr.: cittá) sind 
Glückseligkeit und Wohlsein nicht erreichbar.“3

Ohne Fragen und resultierendes Verstehen des Geistes scheinen Glück und Wohlsein nicht erreichbar zu sein. Darüber können selbst die vielen Rauschzustände nicht hinwegtäuschen, mit denen wir uns nahezu minütlich betäuben. Sind Geist und Glück siamesische Zwillinge? Brauchen beide einander? Verkümmert das Eine ohne das Andere? Inwiefern und wie intensiv und mit welchen Methoden eine Analyse des Geistes möglich ist, um eine Glückseligkeit zu erleben, die jenseits eines betäubenden Konsum- und Erregungsglückes liegt, dem wir ständig zu erliegen scheinen - dieser Frage nachzugehen, ist eines der Anliegen dieses Buches.

Die Ähnlichkeiten zwischen westlichen und östlichen Philosophien über den Geist (gr.: psyche, skr.: cittá) werden besonders klar, sobald wir die außergewöhnlichen Analysen der indisch-buddhistischen Philosophen Āryaveda, Nāgārjuna, Asaṇga, Chandrakirti, Dharmakirti, Śantideva und Atisha, der Tibeter Gampo-pa mit der Linie der siebzehn Karma-pas und Dje Tsong-kha-pa mit der Linie der vierzehn Dalai Lamas in Beziehung setzen zu den tiefgründigen Einsichten der europäischen Philosophierenden wie Heraklit, Sokrates, Aristoteles, René Descartes, Baruch Spinoza, Immanuel Kant, Georg W.F. Hegel, Edmund Husserl, Martin Heidegger, Jean-Paul Sartre, Michel Foucault, Hannah Arendt, Wilfried Sellars, Judith Butler und einigen mehr. Das ist eine der in diesem Buch angewandten Untersuchungsmethoden. So lernen wir:

Geist und Glück sind offensichtlich ein unzertrennbares Paar.
Wollen wir Glück erreichen, müssen wir den eigenen
Geist in allen Facetten verstehen lernen.

Auf dem Weg zum Glück werden wir aber auch manch seltsame Erfahrungen machen. Glück ist abhängig von vielen äußeren Faktoren, vor allem vom Glück anderer Menschen und Tiere. Glück kann nicht auf einer einsamen Insel erfahren werden, da kein Mensch ohne andere lebensfähig ist – obwohl ein zeitweiliger Rückzug (engl.: retreat) vom Lärm der Geschäftigkeiten in unseren Gesellschaften für Kontemplationen und Meditationen überaus hilfreich sind. Denn wir sind abhängig von anderen fühlenden Wesen, weshalb viele Denkende den Menschen als soziale Wesen bezeichnen. Wir befinden uns in einem Fluss des Lebens, eine Metapher, die Heraklit in Griechenland mit Bedeutung füllte und für die er den Begriff panta rhei geprägt hat. Buddha hat den Fluss des Werdens in Sanskrit pratitya samutpāda (dt.: abhängig fließendes Werden) genannt.

Diese uns viele weitere Aspekte auf dem Weg zum Glück untersuche ich meditativ seit vielen Jahren. Die nie abgeschlossenen Ergebnisse versuche ich seit sechs Jahren mit angemessenen Worten zum Ausdruck zu bringen, damit sie Menschen hilfreich sein können. Mit dem Schreiben seit vielen Jahren habe ich zudem meinen Geist an die heilende Gedanken gewöhnt. Ich wünsche und hoffe, dass mittels der Texte für viele der Weg zum Glück sichtbar wird.

Mögen alle fühlenden Wesen Glück erleben
und über die zugehörigen Ursachen verfügen.

Mögen alle fühlenden Wesen frei von Leid sein und
die Ursachen für Leiden in ihrem Geist beseitigen können.

 

 

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