Geist und Glück - Kapitel 4: Geistesfaktoren und Wahrnehmung

Geist und Glück - Kapitel 4: Geistesfaktoren und Wahrnehmung

von Hans Korfmacher

Asaṇga - einer der großen indisch buddhistischen Gelehrten des 4. Jahrhunderts – hat die von Buddha in Lehrreden (skr.: sūtra) dargelegten und für die Wahrnehmungen erforderlichen Geistesfaktoren (skr.: cétaśika; wortwörtlich: das, was die Wahrnehmung befeuchtet) in seiner Schrift Abhidharma-samuccaya nüchtern und umfassend beschrieben. Er kondensierte sie zu einundfünfzig[1] Geistesfaktoren (skr.: cétaśika), wovon fünf allgegenwärtig wirken, da wir ständig etwas wahrnehmen; selbst im Schlaf registrieren wir noch manche Signale. Da es sich bei cétaśika um Geisteseigenschaften handelt, ist es sinnvoll sie als Adjektive zu betrachten: 

berührbar zu sein (skr.: sparśavat[2])
empfindsam zu sein (skr.: vedanāvat)
unterscheidend zu sein (skr.: sajñāvat) 
wollend fokussierend zu sein (skr.: cétana).
bedächtig aufmerksam zu sein (skr.: manána)

sparśavat (dt.: berührbar zu sein)

Die Reisen in die Vorstellungswelten (skr.: saskāra) unserer Wahrnehmungen – dem Husserl’schen Sein als Bewusstseinserlebnis - beginnen mit Berührungen (skr.: sparśa) mit Lebewesen, Objekte usw. – dem äußeren Sein der Dinge. Der Lichtstrahl, der von Etwas reflektiert wurde, berührt mein Auge und löst auf dessen Retina einen elektrischen Impuls aus, der über die Fasern des Sehnervs zum Sehzentrum transportiert und zur Information verarbeitet wird. Damit eine Transformation der physikalischen Signale zur Information möglich wird, ist metaphorisch eine Software erforderlich, die die physikalischen Signale erkennt und zur Information verarbeitet. Diese Software ist weder mit dem Auge noch der Retina oder dem Sehzentrum identisch, da Körperliches nur physikalische Reize wie elektrische oder chemische Impulse verarbeiten kann. Die zur Informationserzeugung befähigende Software entspricht vielmehr einer geistigen Antenne, die uns befähigt, die eintretenden physikalischen Signale in geistige Informationen zu transformieren, die in den buddhistischen Terminologie vijñānā (dt.: unbewusste Erkenntnisse) genannt werden. 

Gehirn und Sinnesorgane übernehmen in zugehörigen Prozessen die Aufgabe von Hardwarekomponenten – wie bei einem Computer, der ohne Software ein sinnloser Haufen aus Metallen und Kunststoffen wäre. Wie die Informationsverarbeitungsfähigkeit einer geistlosen Maschine erst durch eine Software ermöglicht wird - in der Algorithmen (dt.: Handlungsvorschriften) als Ausdruck der geistigen Tätigkeiten von Programmierenden systematisiert vorliegen - werden die geistigen Fähigkeiten des Menschen erst aufgrund von Geistesfaktoren (skr.: cétaśika) möglich, die mit den Algorithmen einer Software vergleichbar sind. Wie ein Computer ohne Software funktionslos ist, ist der Körper ohne Geist eine nicht lebensfähige Masse, sichtbar daran, dass deren Verwesung - wie Homer es beschrieb - mit dem Moment des Entweichens des Geistes als Lebenshauch (gr.: psyche) beginnt. Hard- und Software sind in beiden Fällen zwar aufeinander angewiesen, aber zueinander verschieden. So wird aus einem elektrischen Impuls des Sehnervs eine Wahrnehmung, kann Wahrgenommenes als angenehm, unangenehm oder neutral empfunden.

Kontemplieren wir die entsprechenden Prozesse vertiefend, lernen wir: Ein Teilaspekt der Software entspricht einer Geisteseigenschaft, die Buddha Śakyamuni mit dem Adjektiv sparśavat (dt.: berührbar zu sein) bezeichnet hat. sparśavat (dt.: berührbar zu sein) ist das Substrat (dt.: Basis, auf der etwas gedeihen kann), wodurch karmisch bedingter Geistk mit dem Draußen in Berührung kommt, die Welt erlebt und sie als wahr annimmt. Der Geistesfaktor sparśavat (dt.: berührbar zu sein) ist elementar für unser menschliches Leben, da er uns zu fühlenden Wesen macht. Der tibetische Gelehrte Katschen Yesche Gyältsän hat die Geisteseigenschaft sparśavat im 18. Jahrhundert auf der Basis von Asaṇgas Abhidharma-samuccaya mit folgenden Bedeutungen definiert:

„Der Geistesfaktor (skr.: cétaśika) berührbar zu sein (skr.: sparśavat; tib.: reg pa) 
umfasst Erkenntnisse, die beim Zusammentreffen eines Objekts 
mit der Kraft der Sinne den Geist befähigen, ein 
Objekt ins Bewusstsein aufzunehmen.“[3]

Bei cétaśika sparśavat (dt.: Geisteseigenschaft berührbar zu sein) handelt es sich um spezifische Erkenntnisse respektive Informationen, die wie Algorithmen wirken, wodurch wir äußere Objekte ins Bewusstsein aufnehmen können. Über die Funktion von sparśavat (dt.: berührbar zu sein) erklärt Asaṇga in Abhidharma-samuccaya:

„Die Funktion des Geistesfaktors sparśavat besteht darin,
die Grundlage für das Entstehen von Empfindungen (skr.: vedana) zu sein.“[4]

 Ohne die Geisteseigenschaft sparśavat (dt.: berührbar zu sein) wären wir keine fühlenden Wesen, sondern eiskalte Maschinen – weshalb die maschinell-künstliche mit der menschlichen Intelligenz nicht vergleichbar ist; den Begriff Intelligenz sollten wir daher nur für fühlende Wesen verwenden. Das, was uns als Menschen auszeichnet, ist die Fähigkeit, Wahrnehmungsobjekte durch Berührung (skr.: sparśa) und nachfolgende Empfindungen (skr.: vedanā) ins Bewusstsein aufzunehmen, wodurch eine geistige Vorstellung über die Welt entsteht, die wir als attraktiv, unattraktiv oder neutral empfinden und nachfolgend detailliert analysieren können. 

Mittels sparśavat entsteht eine Vorstellung über
die Welt in Geistk und damit unser Erleben.

Eine herausragende Fähigkeit des menschlichen Geistesk besteht darin – was uns von den allermeisten Tieren unterscheidet - sich selbst berühren zu können. Denn neben den äußeren, sinnlich erfahrbaren Dingen können wir mit dem mentalen Aspekt von Geist (skr.: mano-vijñānā) bereits vorhandene nichtsensorische Informationen[5] berühren – beispielsweise, wenn wir an längst verstorbene Menschen denken und darüber noch nach Jahren schmerzhafte Trauer empfinden. Denn in Geistk sind Vorstellungen (skr..: saskāra) und unbewusste Erkenntnisse (skr.: vijñānā) über vergangene Lebesituationen und Lebewesen, Dinge usw., kurz: Erfahrungen gespeichert, an die wir uns mittels sparśavat berührend erinnern können, falls wir es wollen. 

Dass Geistk nicht nur sinnlich berührbar ist wissen alle, die sich an etwas Unangenehmes wie eine Spinne oder Gräueltat erinnern und spontan ein unangenehmes Gefühl wie Ekel, Trauer oder Wut empfinden. Die zugehörigen Prozesse sind unbewusst, etwa wenn wir urplötzlich auf jemanden ablehnend reagieren, ohne dass die Person uns angegriffen hätte. In solchen Situationen berühren uns unbewusste Erinnerungen (skr.: saskāra), die in Geistkgespeichert vorliegen und durch Körperhaltung, Tonlage, Geruch oder andere Signale der Person getriggert werden. Hierdurch kann eine ablehnende Empfindung entstehen, die in der Regel nichts oder nur wenig mit der aktuellen Person gemeinsam hat. Deshalb sprechen wir davon:

„Jeder Mensch verfügt über Knöpfe, die, einmal gedrückt,
ihn wie ein HB-Männchen in die Luft jagen.“

Das betrifft allerdings nicht nur abwehrende Reaktionen. Auch die spontane zuneigende Reaktion auf das sinnlich Wahrnehmbare eines Gegenübers – Silhouette, Gesichtsausdruck, Hautfarbe, Geruch, usw. - die als attraktiv empfunden wird, basiert auf solchen Erinnerungen. Eine sinnlich wahrgenommene Person ist folglich nur selten gemeint, wenn so manche Zuneigungsbezeugung an sie gerichtet wird. 

Wir alle kennen zudem die Erfahrung, auf etwas ambivalent reagiert zu haben: Ich kann auf einen Angriff abwehrend, neutral oder mitfühlend reagieren. Welche der drei Reaktionsweisen stattfinden hängt davon ab, welche Erkenntnisse in sparśavat aktiv sind. Auf diesem Potenzial basieren auch einige Übungen zur Geistesschulung (tib.: lo jong), was folgendes Beispiel verdeutlicht: 

„Ich stelle mir eine feindlich gesonnene Person vor, 
um Mitgefühl für sie zu entwickeln.“

Das mag für viele noch absurd klingen. Doch gelingt es mir nach einer Berührung mit der Vorstellung (skr.: saskāra) über einen feindseligen Menschen eine spontan aufkeimende Ablehnung so zu registrieren, dass ich sie in Mitgefühl umwandeln kann, wird der Teufelskreis aus Gewalt und Gegengewalt, Mord und Rache usw. durchbrochen, der seit Tausenden Jahren wie eine Seuche auf unserem Planeten tobt und beispielhaft von Aischylos in Orestiedramatisch beschrieben wird. Die genannte Übung verstärkt den Geistesfaktor »gleichmütig zu sein« (skr.: upekāvat) und demonstriert, dass wir bereits über Potenziale für ein friedliches Leben verfügen.

Wollen wir uns selbst verstehen lernen, müssen wir die Erkenntnisse erkunden, die in saṃskāra (dt.: Vorstellungen, Konstruktionen, Gestaltungen) vorliegen, was durch ein Berührt-werden von den Informationen in saṃskāra möglich wird. Solange ich mich nicht von einer zwar längst vergangenen, aber im Geistk immer 

noch vorhandenen und wirksamen Vorstellung (skr.: saskāra) berühren lasse, werde ich daraus nichts lernen. Die Lernprozesse bestehen darin, automatisierte Reaktionsmuster bewusst zu registrieren, um sie heilsam zu verändern. Folglich ist es wenig hilfreich, Wut und andere abwehrende Verhaltensweisen zu unterdrücken, da sie in Geistk bei allen Menschen in saskāra gespeichert vorliegen. Allerdings sollten wir abwehrende Vorstellungen nicht blindlings ins Werk setzen, da sie uns und anderen dann karmischen Schaden zufügen. Heilsam ist stattdessen, die Abgründe unserer Vorstellungen zu betrachten und sie als geistiges Konstrukt anzuerkennen, sodass wir sie gleichmütig (skr.: upekāvat) beenden können.

Analytisch schreibt Asaṇga über die Daseinsgruppe saskāra (dt.: Vorstellungen, Konstruktionen, Gestaltungen usw.) in Abhidharma-samuccaya:

„Was sind die Eigenschaften der konstruierten Vorstellungen (skr: saskāra)?
Das Konstruieren ist die Charakteristik der Vorstellungen (skr: saskāra).
Ihre Natur ist es, zu formen und zu konstruieren, wodurch der Geist
auf heilsame (skr.: kuśala), schädigende (skr.: akuśala) oder auf
neutrale (skr.: avyākrta) Handlungen ausgerichtet wird.“[6]

Die im Geistk vorhandenen Vorstellungen (skr.: saskāra) konstruieren und gestalten Reaktionen, die nach einer Berührung (skr.: sparśa) mit etwas stattfinden, und richten den Geistk auf Handlungen (skr.: karma) aus. Ganz im sokratischen und einsteinschen Sinn, dass wir ohne vorherige Erkenntnisse nichts wissen können, was Wissen ist, liegen im Geistesfaktor sparśavat (dt.: berührbar zu sein) Informationen vor, sodass wir spezifische Signale vorhandener Vorstellungen (skr.: saskāra) und unbewusster Erkenntnisse (skr.: vijñānā) herausfiltern können, um etwas über gegenwärtige und vergangene Lebenssituationen zu erfahren. 

Erinnern wir uns beispielsweise an die je individuelle Kindheit, sehen wir meist freudige, aber auch leidvolle Bilder vor dem inneren geistigen Auge, das die Informationen in saskāra schaut. Die in saskāra gespeicherten Bilder berühren uns während der Erinnerungsarbeit – die wir Psychoanalyse nennen - wodurch vormalige Situationen nachempfunden werden. Manchmal fühlen wir erneut einen alten Schmerz, obwohl er körperlich längst vergangen ist und äußerliche Wunden geheilt sind. Manchmal entsteht das Gefühl, wir müssten mit dem aktuellen bloßen Ich eine vormalige Lebenssituation nochmals durchleiden. Manchmal fürchten wir uns vor Erinnerungen und wollen sie verdrängen, weshalb viele sich an ihre Kindheit nicht erinnern können[7]

Erinnerte Berührungen bilden die Grundlagen für Sorgen, Trauer, 
Ängste und Neurosen bis hin zu Burn-out, Depressionen
und Psychosen. Solange uns die gespeicherten 
Vorstellungen (skr.: saskāra) nicht 
bewusstwerden, leiden wir fürchterlich. 

Vergegenwärtigen (skr.: smárati) wir uns in erinnerten leidvollen Momenten - zunächst intellektuell, sodann emotional, schließlich unmittelbar - dass die damals beteiligten Personen aktuell nicht mehr anwesend, vielleicht sogar verstorben sind, entsteht spontan ein befreiendes Lächeln auf dem Gesicht eines jeden Menschen. Dann realisieren wir völlig entspannt, dass wir mit einer erinnerten Angst (skr.: saskāra) einer Fata Morgana aufsaßen. Denn von den damals leiderzeugenden Personen und Umständen existiert heute nicht mal ein kleinstes Atom; sie können uns nicht mehr erreichen und nicht mehr verletzen. In erinnerten leiderregenden Momenten werden wir nur von geistigen Informationen berührt. Erinnerungen eben.

Zusammenfassend können wir konstatieren:

Signale, die a) von Menschen, Tieren und sonstigen Phänomenen in Form von
Licht, Geräuschen, Gerüchen, Geschmäckern oder Tastbarem ausgesendet 
und durch die Sinnesorgane registriert werden und chemische und
elektrische Nervenreize auslösen sowie b) die wir unmittelbar
durch nichtsensorische Informationen wahrnehmen, die im
Geist vorliegen, werden von einer Empfangseinheit
aufgenommen, wodurch eine Berührung mit den
Welten erlebt wird. Diese Einheit hat Buddha
sparśavat (dt.: berührbar zu sein) genannt.

Dass es sich bei dem, was wir als cétaśika sparśavat (dt.: Geistesfaktor berührbar zu sein) bezeichnen, um eine sinnhafte Konstruktion handelt, erkennen wir an unserer Unberührbarkeit für chemosensorische und elektromagnetische Signale, die Pflanzen und Tieren, aber auch radioaktive Stoffe aussenden. Besäßen wir eine geistige Antenne für elektromagnetische Strahlung, würden wir im Gewirr der Mobilfunkkommunikation wahnsinnig werden. 

Wie bei allen Untersuchungen von Geisteseigenschaften ist erneut zu bedenken: 

cétaśika sparśavat (dt.: Geistesfaktor berührbar zu sein) 
ist eine Ansammlung spezifischer Erkenntnisse,
die uns zur Berührung befähigen. 

Es ist nicht eine einzige, universelle Information, die jeden und jede Einzelne zur Berührung befähigt, sondern eine Ansammlung spezifischer Erkenntnisse, weshalb wir eine genetische Codierung der Informationen in sparśavatausschließen dürfen; die schiere Anzahl möglicher Berührungen kann genetisch nicht abgebildet werden. Damit stellt sich die Frage: 

Wie entstehen die Erkenntnisse des Geistesfaktors sparśavat?
Was befähigt uns Menschen, berührbar zu sein?

Beobachten wir die Unterschiede in der Berührbarkeit von Menschen lernen wir: Ein Mensch, der regelmäßig andere schlägt, misshandelt oder gar tötet, lässt sich weniger von den Leiden anderer Wesen berühren als jene, die um das Wohlsein ihrer Mitmenschen bemüht sind. Ein Mensch, der mitfühlend lebt, hat eine andere Sensibilität gegenüber fühlenden Wesen als jene, die von ihrer Wut überflutet werden. Die zur Berührung befähigenden Erkenntnisse entstehen offenbar durch willentliche Akte (skr.: karma) – weshalb Edmund Husserl von intentionalen Erlebnissen sprach, die im buddhistischen Sinne den je individuellen Geistk prägen. 

Die willentlichen, intentionalen Handlungen (skr.: karma) der 
Individuen bewirken ihre unterschiedliche Berührbarkeit. 

Buddha Śakyamuni hat aufgrund seiner Meditationen allgemeingültig über die Entstehung der Geisteseigenschaften festgestellt: 

Alle Geistesfaktoren (skr.: cétaśika) sind Erkenntnisse, 
die aufgrund willentlicher Handlungen (skr.: karma) entstehen. 
Bis auf die Empfindungen (skr.: vedana) gehören alle Geistesfaktoren zur
Daseinsgruppe (skr.: skandha) der konstruierten Vorstellungen (skr.: saskāra).

Willentlichen, intentionalen Handlungen (skr.: karma) kommt somit eine meist unterschätzte Bedeutung zu: karma(dt.: willentlicher Akt) bestimmt die Geisteseigenschaften (skr.: cétaśika), die uns in bestimmter Weise wahrnehmen, empfinden, denken, sprechen und handeln lassen. Folglich stärkt ein solides Verständnis über die von Asaṇga in Abhidharma-samuccaya beschriebenen einundfünfzig Geistesfaktoren das Wissen (skr.: vidyā) über karma, was für eine Befreiung (skr.: nirvāna) vom Leid (skr.: duhkha) wesentlich ist.

Bemerkenswert ist obendrein, dass wir die allermeisten Berührungen nicht bewusst erleben. Wir alle leben in individuellen Welten automatisierter geistiger Prozesse, weshalb wir über die täglichen unzähligen Berührungen kaum oder nicht sprechen können. Nur in besonderen Momenten, wenn Kontakte außergewöhnlicher Qualität stattfanden, murmeln wir erstaunt: 

„Der, die oder das hat mich soeben berührt.“ 

Dann stehen uns Körperhärchen zu Berge oder es läuft uns ein Schauer über den Rücken. Dann erleben wir eine überwältigende Freude, da wir in diesen Momenten jene elementare Kompetenz von Geistk spüren, die uns als fühlende Wesen auszeichnet. 

Den Geistesfaktor sparśavat (dt.: berührbar zu sein) zu erleben,
 lässt uns das Leben unmittelbar (nichtsinnlich) erfahren.

Aus der einfachen Gegebenheit, dass wir über die Kompetenz sparśavat (dt.: berührbar zu sein) schon ab dem ersten Moment der Geburt verfügen, dürfen wir schließlich folgern, dass die dafür notwendigen karmischen Geisteseindrücke (engl.: mind imprints) in Lebenssituationen vor unserer Geburt entstanden, was die Bedeutung von karma für viele Existenzen bezeugt. 

Gewissheiten

Berührt mich etwas Heilsames, entsteht spontan eine angenehme Empfindung wie Freude, ein Lächeln oder ein Lachen usw. Berührt mich eine Bedrohung, stellt sich spontan eine unangenehme Empfindung ein, die mich traurig oder ängstlich stimmt und meinen Gesichtsausdruck verdunkeln kann. Kontemplieren wir hierüber gelangen wir zur Frage:

Woher weiß Geistk, ob etwas heilsam oder schädigend 
wirkt und eine angenehme, unangenehme oder 
neutrale Empfindung auslösen wird? 

So trivial die Frage auf den ersten Blick erscheinen mag, sie ist höchst bedeutsam, da wir damit unsere gängigen Wertsysteme hinterfragen. Für eine Person mag eine Speise lecker schmecken und eine angenehme Empfindung auslösen. Doch die gleiche Speise kann für eine andere Person Ablehnung bis hin zum Ekel bewirken. Folglich ist zu fragen:

Was sind die Maßstäbe und wie entstehen sie
aufgrund der wir angenehme und unangenehme, 
anziehende und ablehnende Empfindungen erleben?

Solch existenzielles Fragen wirft uns auf uns selbst zurück, da die grundlegendsten Aspekte unseres Mensch-Seins betrachten werden, die irgendwie in uns vorhanden und wirksam sind. Alle Moral- und Rechtssysteme, die die Menschheit seit Jahrtausenden formuliert hat und Stützen für die Wertesysteme von Gesellschaften waren und sind, weisen darauf hin, dass wir irgendwelche basalen Erfahrungen teilen, die unser Mensch-Sein auszeichnen. Kontemplieren wir hierüber immer und immer wieder, wird zunächst eine von mehreren Gewissheiten sichtbar: 

  • Alle Menschen wollen glücklich leben, auch wenn die meisten 
    – wie Immanuel Kant weise feststellte – „nicht genau sagen können, 
    was sie glücklich machen könnte.“ Deshalb werden alle Handlungen, die
    ein Glücklich-sein ermöglichen könnten, als angenehm und richtig empfunden.

Diese Faktizität des Lebens gilt auch für Tiere, worauf der Dalai Lama unablässig hinweist. Doch weil diese Gewissheit in der Praxis meist vage bleibt, da wir nicht sagen können, was uns glücklich machen könnte, reicht sie nicht aus, um die gesuchten Maßstäbe zu begründen. Graben wir aber tiefer, stoßen wir auf weitere Gewissheiten, die das Mensch-Sein und die allermeisten fühlenden Wesen prägen und unser Geworfen-Sein ins Dasein, wie es Martin Heidegger ausdrückte, beleuchten:

  • Alle Menschen wollen leben.
     
  • Wir alle wissen vom ersten Tag an, dass wir
    alleine nicht überlebensfähig sind. Wir sind vom ersten Moment der
    Geburt an bis hin zum Tod von anderen Wesen abhängig. Folglich werden 
    Handlungen, die uns und anderen Menschen helfen könnten, als angenehm 
    und richtig empfunden. Zugleich werden Handlungen, die unser 
    Leben gefährden, als unangenehm und falsch bewertet.
  • Da wir alleine nicht überlebensfähig sind, suchen wir intuitiv
    andere Menschen auf, denen wir vertrauen und mit denen wir das Leben
    erhaltend gestalten können. Deshalb sind Vertrauen und Kooperation die Rezepte
    zum evolutionären Erfolg der Menschheit. Deshalb werden alle Signale von Mitgefühl,
    Zuwendung und Vertrauen, die wir empfangen, als angenehm und richtig
     empfunden, während Handlungen, die Beziehungen verletzen oder
    zerstören, als unangenehm und falsch bewertet werden.
  • Da wir alle leben wollen, will kein gesunder Mensch freiwillig 
    oder durch die Handlung eines anderen sterben. Jeder Akt, der das
    Leben gefährden könnte, empfinden wir intuitiv als unangenehm und falsch.
  • Schließlich wollen alle Menschen frei sein von Schmerzen und Leiden, 
    wohlwissend, dass das nicht durchgängig verwirklicht werden kann,
    weil jeder Mensch krank wird, sich verletzt und stirbt. Deshalb werden Handlungen,
    die Leiden aller Art vermeiden, als angenehm empfunden und richtig bewertet.
  • Abschließend wissen wir aufgrund dieser basalen Gewissheiten,
    dass wir alle Gleichwertige sind. Alle Menschen wollen
    glücklich leben, mit anderen schöne, vertrauensvolle 
    Beziehungen erleben und Leiden vermeiden,
    was wir als würdevoll bezeichnen. 

Die sieben existenziellen Gewissheiten bilden das, was wir landläufig Gewissen nennen. Sie sind an unseren individuellen, karmisch erzeugten Welten gestaltend beteiligt, selbst wenn wir sie ignorieren, da wir uns dann mies fühlen. Sie regulieren die Prozesse, die Buddha karma genannt hat. 

Die sieben Gewissheiten beschreiben unsere grenzenlos wirksame innere Verfasstheit, selbst wenn eine konkrete Handlung eines Menschen im Widerspruch dazu steht. Nehmen wir die sieben Gewissheiten wahr und akzeptieren sie, bilden sie unseren bewussten Handlungskompass – das Gewissen - wodurch wir Wahrgenommenes als angenehm, unangenehm oder neutral unterscheiden. Aufgrund der sieben Gewissheiten weiß selbst der größte Schuft intuitiv, dass er falsch gehandelt hat, als er log und betrog, Verletzungen schlug, Beziehungen zerstörte und fühlenden Wesen ihr Leben nahm.

„Aber die Ästhetik hat bestimmt andere Gründe“, wenden manche nun sicherlich ein, „da wir über Geschmäcker nicht streiten können.“ Kontemplieren wir die zugehörigen Prozesse, lernen wir: Selbst bei der banal erscheinenden geschmacklichen Bewertung von Speisen, die nach einer Berührung der Zunge und des Mundes mit einem Lebensmittel und nachfolgenden Empfindungen stattfindet, wirken die Gewissheiten. Denn eine Speise schmeckt einer Person deshalb unangenehm, weil sie mit dem ersten Bissen unbewusst erfährt, dass sie ihr unzuträglich sein und ihr Wohlsein beeinträchtigen könnte. 

Die Abwehrreaktion tritt jedoch auch ein, wenn Menschen nicht über Erfahrungen mit einer Speise und somit nicht über eine intuitive (dt.: nicht sinnliche) Grundlage zur Bewertung einer Nahrungsquelle verfügen, was sich im Sprichwort spiegelt: „Ein Bauer isst nichts, was er nicht kennt.“ Deshalb sind gebratene Ameisen in manchen Kulturen eine Delikatesse – sie enthalten essenzielle Proteine und verleihen den Essenden Kräfte, mit denen sie ihre Leben bewahren – während sie in anderen Weltregionen auf Ablehnung stoßen, weil die dort Lebenden über andere Proteinquellen verfügen und keine heilsamen Erfahrungen mit gebratenen Ameisen erlebt haben. Auch die Bewertung von Malerei, Musik, Tanz usw. beruht auf den sieben Gewissheiten, da die wahrgenommenen Bilder, Töne, Harmonien, Bewegungen bei jedem Menschen individuelle Vorstellungen in Bewegung bringen, die mit lebenserhaltenden oder lebensgefährdenden Vorstellungen verbunden sind. 

Auf der Grundlage der sieben Gewissheiten erschufen Menschen irgendwann Götter und Religionen, an denen sie ein potenziell idealisiertes – eben gewissenhaftes - Handeln verankern wollten. Denn Menschen hatten schon früh die traurige Erfahrung gemacht, dass sie ständig ihre Gewissheiten verletzten und sich wechselseitig Leid zufügten. So schufen sie moralische Regelwerke wie die Zehn Gebote der abrahimitischen Religionen (Judentum, Christentum, Islam) und die Zehn zu vermeidenden Handlungen des Buddhismus und Hinduismus. Die jeweils zehn Regeln repräsentieren das versprachlichte Gewissen der Menschheit und unterscheiden sich folglich kaum. 

Allerdings kann die Jahrtausende alte Sprache zur Vermittlung der zehn moralischen Regeln aufgrund der autoritär patriarchalen Fingerzeige von Rabbis, Priestern, Imamen oder Gurus und ihrer Sanktionen die Menschen der Moderne kaum mehr berühren. Denn wir wurden zwischenzeitlich von der schönen Idee einer Freiheit und der freien Entscheidungen berührt, wodurch eine neue heilsame Vorstellung in Geistk verankert wurde, die dem Gewissen sehr nahesteht. Allerdings artet diese Freiheit bei manchen in Tyrannei aus, etwa wenn narzisstisch verwirrte Menschen sie ins Absolute überdehnen und sich rücksichtlos nehmen wollen, wovon sie glauben, dass es ihnen zustünde. Wir müssen als Menschheit offenbar noch besser lernen, mit der schönen Freiheit heilsam umzugehen und ihre Grenzen zu respektieren.

vedanāvat (dt.: empfindsam zu sein)

Um spontan aufgrund einer Berührung etwas empfinden zu können, bedarf es eines weiteren Teilaspekts der metaphorischen Software, die Empfindungen ermöglicht. Katschen Yesche Gyältsän definiert dazu auf der Basis von Asaṇgas Abhidharma-samuccaya:

„Das Wesensmerkmal des Geistesfaktors empfindsam zu sein 
(skr.: cétaśika vedanāvat, tib.: tshor ba)
ist das Erleben eines Objekts.“

 Die Geisteseigenschaft vedanāvat (dt.: empfindsam zu sein) ermöglicht eine Empfindung nach einer Berührung. Sie ist geprägt vom „Erleben eines Objektes“ im Kontext der sieben Gewissheiten und erzeugt nach einer Berührung jene Informationen, die im Geistesfaktor vedanāvat gespeichert vorliegen und in einer späteren Lebenssituation während einer Berührung durch ein ähnliches Objekt oder vergleichbare Situation angenehme, unangenehme oder neutrale Empfindungen auslösen werden. 

Zum Verständnis der zugehörigen Prozesse stellen wir uns Kleinstkinder vor, die keine Erfahrung damit haben wie sich eine heiße Herdplatte anfühlt und sie trotz aller Warnungen ihrer Eltern anfassen wollen. Aus der sodann erlebten Erfahrung: „Aua, das ist heiß“ entsteht in ihrem Geistk eine Erkenntnis, die die Geisteseigenschaft vedanāvat (dt.: empfindsam zu sein) speist. Bei einer zukünftigen Situation mit einer heißen Oberfläche werden die Kinder versuchen, den Kontakt mit dem heißen Gegenstand und somit Schmerzen zu vermeiden. Bei solchen Lernprozessen spielen Worte keine Rolle, sichtbar an den spontanen Reaktionen von Kleinstkindern, das Verbrennen ihrer Hände zu vermeiden, obwohl sie eine verbale Kommunikation noch nicht kennen. Die Geisteseigenschaft vedanāvat (dt.: empfindsam zu sein) basiert folglich auf den Gefühlserfahrungen vergangener Handlungen (skr.: karma), die in Relation zu den Gewissheiten entstanden. Insofern repräsentiert vedanāvat das Gefühlsgedächtnis jedes einzelnen Menschen. 

Hat eine Person beispielsweise vor Jahren eine psychische Verletzung erlitten – die aufgrund eines Vergleichs mit den Gewissheiten als Verletzung empfunden wird - liegen die zugehörigen Gefühle als Informationen im Geistesfaktor vedanāvat vor. Gelingt es später während einer Psychotherapie, den damaligen spezifischen Schmerz noch einmal zu fühlen und zugleich den Unterschied zur aktuellen Lebenssituation wahrzunehmen - dass das Vergangene nicht mehr bedrohlich ist usw. - wird eine Heilung alter Wunden möglich. Auf diesem Prinzip basieren alle Geistk analysierenden Therapieformen.

Werden vergangene Empfindungen aus zeitlich und räumlich sicherer Distanz erneut betrachtet, können alte Lebenssituationen entspannt nachempfunden und betrachtet werden, da die Gegenwart Sicherheit bietet. Durch das Assoziieren und den sprachlichen Ausdruck vergangener Schmerzen kann während einer Psychoanalyse ein Geistesstrom aus alten Emotionen re-aktiviert werden, der aus dem unbewussten ES ins Bewusstsein fließt. Psychoanalytiker und Psychoanalytikerinnen übernehmen in solchen Prozessen die Rolle, die Analysanden auf bestimmte Empfindungsbrocken hinzuweisen, die in ihr Bewusstsein geschwemmt werden. Dadurch helfen sie den Analysanden, dass der Geistesstrom aus emotionalen Erinnerungen aufgrund möglicher Blockaden nicht abreißt. Eine Patientin Sigmund Freuds nannte das zu Beginn des 20. Jahrhundert metaphorisch „chimney sweeping“ (dt.: Kaminreinigung). 

Erinnerungen sind stets mit Empfindungen verbunden, 
weshalb sie mit Hilfe von Gefühlen abgerufen werden können. 

Das gilt für Erinnerungen an früheste Kindheitstage ebenso wie an vormalige Existenzen. Um sehr lange zurückliegende Ereignisse zu erinnern, muss sich der erinnernde Geistk allerdings in einem äußerst entspannten Zustand befinden und darf nicht von aktuellen Sinnesreizen überflutet werden. Deshalb lautet die buddhistische Empfehlung:

 Die Tore der Sinne sind zu schließen, um śamatha (dt.: geistige Ruhe) 
zu verwirklichen, wodurch Erinnerungen selbst an sehr lange 
zurückliegende Situationen ermöglicht werden. 

Wer mit den Übungen zum Erreichen des Geisteszustandes śamatha beginnt, erlebt allerdings meist zunächst eine herbe Enttäuschung. Denn plötzlich strömen tausende und abertausende Gedanken ins Bewusstsein, obwohl doch Ruhe das gesteckte Ziel war. Es scheint als würde ein Gedankenzirkus durch Geistk ziehen, als würde ein Affe von einem Gedanken zum nächsten hüpfen. Die innere Unruhe entsteht, weil durch die Reduzierung der äußeren Reize - beispielsweise durch das Schließen der Augen in geräuscharmer Umgebung - in Geistk vorhandene Gedanken ins Bewusstsein einströmen. Dann werden sie nicht mehr von den alltäglichen Geschäftigkeiten, Verpflichtungen, Erwartungen, Ängsten usw. blockiert, sondern zeigen sich in ihrer vollen Kraft und Bedeutung. Menschen, die das Rentnern erlernen, durchlaufen ähnliche Phasen.

Viele Meditierende unternehmen in dieser Situation leider den hilflosen Versuch, sich gegen die Gedankenströme zu stemmen. Aber das verstärkt nur das Problem, da die Gedanken als Erfahrungen (skr.: saskāra) in Geistk eben vorhanden sind und alle Maßnahmen zur Unterdrückung des Gedankenstroms den Weg zur geistigen Ruhe verstellt. Deshalb lautet der weise Rat: 

Betrachte deine Gedankenströme als Wolkenfelder. 
Beobachte sie und lass´ sie vorbeiziehen. 
 Dann lösen sie sich auf. 

sajñāvat (dt.: unterscheidend zu sein)

Empfindungen (skr.: vedanā) lösen bei allen Menschen Reaktionen aus, die wir anderen mitteilen wollen. Hierzu formen wir Laute, die wir zu Worten – wie „Achtung!“ – und Konzepten zusammenfügen, sodass wir Sätze bilden wie: „Dahinten lauert eine Gefahr!“ Worte sind normierte Laute, denen Menschen eines Sprachraums spezifische begriffliche Bedeutungen zuwiesen, um gegenständliche und abstrakte Sachverhalte möglichst eindeutig zu vermitteln. Bemerkenswert ist, dass die Konnotationen (dt.: Bedeutungsinhalte) der Worte regionalspezifisch sind und sich aufgrund von Kommunikationserfahrungen ständig ändern, weshalb wir in saskāra über Kommunikationshintergründe[8] verfügen, worauf der Anthropologe Michael Tomasello in Ursprünge der menschlichen Kommunikation hinweist. 

Wir alle kennen universelle Laute wie das „Aua!“, mit dem Menschen weltweit Schmerzen zum Ausdruck bringen; oder „Mama“, womit nahezu global Mütter benannt werden. Doch die allermeisten Laute sind regionalspezifisch, wie das „du“ oder „da“ im Deutschen. Beim englischen „you“ muss zwischen diversen Bedeutungsräumen – England, USA, Canada, Australien, usw. – und dortigen Intonationen unterschieden werden. Jeder Sprachraum ist zudem von den Erfahrungen einer sozialen Gruppe abhängig, was die Soziolekte der Jugendsprachen, Arbeitersprachen, Bildungssprachen usw. bezeugen.

Mit Lauten, Worten und Sätzen differenzieren wir sprachlich angenehme, unangenehme oder neutrale Empfindungen über dingliche oder abstrakte Sachverhalte, mit denen Geistk durch eine Berührung in Kontakt gekommen war. Eine unangenehme Empfindung differenzieren wir beispielsweise mit den Begriffen: Kummer, Liebesschmerz, Traurigkeit, Lebensschmerz, Depression, Lebensmüdigkeit. Jedem der Worte hat die soziale Gruppe eines Sprachraums eine spezifische Bedeutung beigefügt - was wir Begriff nennen. Um Empfindungen angemessen und eindeutig zu kommunizieren, sodass die Bedeutung einer Empfindung anderen vermittelbar wird, verfügen wir über eine Kompetenz, der Buddha und Asaṇga den Namen sajñāvat (dt.: unterscheidend zu sein) gaben. Hierüber schreibt Asaṇga:

„Das Wesensmerkmal von cétaśika sajñāvat
(dt.: Geistesfaktor unterscheidend zu sein, tib.: ´du shes) ist, 
dass beim Zusammenkommen von Objekt, Sinneskraft und vijñānā
die besonderen Merkmale eines Objekts bewusst werden.“

Wir erinnern uns[9]: Beim Zusammentreffen der drei Faktoren Sinnesobjekt, Sinneskraft und vijñānā (dt.: unbewusste Erkenntnisse) findet eine Wahrnehmung statt. Ein wesentlicher Unterschied zu den beiden zuvor betrachteten Geistesfaktoren besteht darin, dass mittels sajñāvat (dt.: unterscheidend zu sein) uns „die besonderen Merkmale eines Objekts bewusst“ werden. Während Empfindungen unbewusst entstehen, findet durch sajñāvat ein Akt der Bewusstwerdung statt, wodurch ein begriffliches Verständnis und nachfolgende Versprachlichung möglich werden. Mit der Geisteseigenschaft sajñāvat heben wir unbewusste Berührungen und Empfindungen ins Bewusstsein und differenzieren sie begrifflich mit dem Ziel klarer Kommunikation. Es reicht eben nicht aus, stöhnend nur „Aua!“ zu rufen. Unterscheidendes muss hinzugefügt werden wie: „Ich habe mir den Fuß verletzt.“

Da Sprache sowohl eine soziale Kompetenz als auch sprachraumspezifische Konvention über Bedeutungen ist, die auf begrifflichen Erfahrungen fußt – wobei Worte sprachraumspezifisch Begriffe zum Ausdruck bringen - beherbergt die Geisteseigenschaft sajñāvat das begriffliche Gedächtnis der Menschen. Da aus der Säuglingsforschung[10] bekannt ist, dass Babys in den ersten Monaten über das Potenzial verfügen, alle Sprachen der Welt erlernen zu können, dürfen wir kontemplierend schließen: 

Wir alle sind zu universellen Unterscheidungen fähig. 
Kein Mensch wird als Deutscher, Franzose, Japaner, Asiate,
Amerikaner, Afrikaner usw. mit entsprechender Sprache geboren.

Die sprachraumspezifischen Worte repräsentieren universelle Begriffe,
die wir durch Berührungen und Empfindungen kommunikativ entwickeln.

Das begriffliche Gedächtnis in sajñāvat befähigt uns zur Kommunikation
jenseits tierischer Laute, was notwendig ist, da wir chemosensorische Idioten sind. 

Begriffe und zugehörige Worte und Sätze – gehört, gesprochen oder geschrieben - transformieren entstandene Empfindungen, die wir nach einer Berührung erfuhren, in Erzählungen und Konzepte, kurzum: Aussagen. Sätze sind, wie Ernst Tugendhat in Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie brillant analysiert hat, wollende Aussagesätze, die über das Sein oder Nichtsein von Kommuniziertem berichten. Deshalb dürfen wir konstatieren:

Ohne Empfindungen wären wir zum
begrifflichen Denken und zur Sprache nicht fähig.

Die Nutzung von Begriffen und Sprache ist ein wollender Akt, der zu den drei wirksamen willentlichen Handlungen (skr.: karma) – mit Geist, Rede und Körper - gehört, die den je individuellen Geistk forthin prägen. Mittels Sprache formen wir - ebenso wie mit Denken und körperlichem Handeln - die Qualitäten von karma (dt.: aufgrund von geistigen, sprachlichen und körperlichen Akten entstandene Geistespotenziale), die über Glück oder Leiden entscheiden. Insofern ist es ratsam, eine gewaltfreie Sprache zu kultivieren, die eine heilende Lebenshaltung repräsentiert und Glück ermöglicht.

Die Verbindungen zwischen Empfindungen und Sprache werden besonders bei jenen sichtbar, die äußerst präzise und empfindsam ihre Sprachfähigkeiten nutzen können. Je sensibler ein Mensch begriffliche Unterscheidung (skr.: sajñā) praktiziert, desto klarer wird das Bewusstsein über zugehörige Empfindungen, die auf Berührungen mit Menschen, Phänomenen und Erinnerungen fußen. Deshalb sind lyrisch befähigte Menschen wie die junge US Amerikanerin Amanda Gorman (Jahrgang 1999), die mit The Hill we climb ein sprachliches Denkmal über die Geschichte, Gegenwart und den Möglichkeitshorizont der USA geschrieben hat, höchst sensibel und empfindsam. 

Die menschlichen Kommunikationsweisen sind allerdings nicht auf vokale Ausdrucksformen beschränkt. Es gibt viele weitere Kommunikationsakte wie Musik, Malerei, Körpersprache, Tanz usw., mit denen wir versuchen, Empfindungen (skr.: vedana), die nach äußeren und inneren Berührungen entstanden, in die Welt zu tragen. Autistische Menschen etwa, die vokale Kommunikationsmittel zumeist minimalistisch nutzen, verfügen teilweise über eine sehr hohe Sensibilität für andere Kommunikationskanäle. Manche können Zahlen fühlen. Für sie ist Mathematik eine ebenso klare Ausdrucksform wie für andere ein Gespräch. Einige beschreiben mit Zahlen die Harmonien von Musikstücken und komponieren neue Tonfolgen anhand von Zahlenstrukturen oder mathematischen Formeln. Hieran zeigt sich, dass einige Bereiche von sajñā eng mit vedanāvat verwoben sind, dass spezifische Informationssequenzen in beiden Geisteseigenschaften verwendet werden.

Da Geistk - wie Buddha erklärt hat - sich selbst nicht sehen kann, sind Gedanken, Begriff, Worte, Töne, Zahlen und sonstigen Symbole zur Kommunikation geeignete Hilfsmittel zur Erkundung von Geistk. Je präziser ich mir meiner Gefühle kommunikativ - sprachlich, musikalisch, mathematisch, körperlich usw. - bewusstwerde, desto besser können die zugehörigen, vormalig aufgrund vergangener Berührungen entstandenen Empfindungen wahrgenommen werden. Denn was ich nicht zum Ausdruck bringe, kann mich kaum berühren und wird im Unbewussten verharren. Gelingt es mir aber, ein Bewusstsein über Vergangenes zu entwickeln, steigt meine Erinnerungsfähigkeit bis irgendwann ein so hoher Präzisionsgrad in der Unterscheidung erreicht wird, dass ich die sprachliche Ebene verlasse und intuitiv (dt.: ohne Sinne) erlebte Berührungen bewusst wahrnehme. Dann habe ich die von Asaṇga beschriebene unterscheidende Weisheit (skr: prajñā) erreicht, wodurch selbst Erinnerungen an vormalige Existenzen anstrengungslos auftauchen.

Mit einem Wissen über die Zusammenhänge von Berührungen (skr.: sparśa), Empfindungen (skr.: vedanā) und Unterscheidungen (skr.: sajñā) stellen sich weitere Fragen: 

Warum glauben wir in unserer Zeit, dass
Begriffe so viel wichtiger als Empfindungen seien? 

Versuchen wir unsere Empfindungen unter den Bergen 
unzähliger Worte zur Verdinglichung der Welt zu verbergen?

Sind wir aufgrund von Ängsten kaum fähig, Empfindungen zu ertragen? 

Selbst der höchst intellektuelle und sprachgewandte Immanuel Kant, der mit archäologischer Finesse die Fragmente Sokrates‘ aus dem Geröll christlicher Philosophie ausgegraben hatte, weist in seinem Werk auf die immense Bedeutung von Empfindungen für jedwedes Denken hin. Denn wir können nur das denken, das uns vorher berührt hat und worüber wir etwas empfanden. Mit dieser Erkenntnis hat Immanuel Kant die Illusion über eine empirische Objektivität im Mark erschüttert, da Empfindungen subjektiv sind. Kein Geschmack lässt sich objektiv betrachten und zum Glück können wir über Empfindungen niemals streiten. Sie alle sind und bleiben subjektiv wahr, auch wenn sie diametral zueinanderstehen, obwohl das gleiche Objekt berührend war. Hannah Arendt hat aus der Kant‘schen Erkenntnis über die Unmöglichkeit jeglicher empirischen Objektivität den konsequenten Schluss gezogen:

„Die Subjektivität des Es-erscheint-mir 
kann nur dadurch behoben werden, dass der
gleiche Gegenstand auch anderen erscheint, sodass
die Intersubjektivität der Welt und nicht die Ähnlichkeit der
physischen Gegenstände es ist, die die Menschen davon überzeugt, 
dass sie zur gleichen Art gehören.“[11]

Das „Sein als Dinge“ im Sinne Edmund Husserls werden wir niemals erfahren, da wir uns nicht in einen Baum oder Stein usw. versetzen können. Wir können Sein ausschließlich „als ein bewusstseinsmäßiges Erlebnis“ erfahren, das sich obendrein im Fluss der Veränderungen von Geistk befindet. Deshalb ist Intersubjektivität die einzige Möglichkeit zur interpersonellen Verständigung über Wahrgenommenes. Durch Kommunikation mittels saṃjñā (dt.: unterscheidend zu sein) über Erfahrungen (skr.: saṃskāra), die das Sein des Draußen im Geistk

repräsentieren, gewinnen wir zumindest die relative Gewissheit, dass wir gemeinsam auf einem Planeten leben, dass die Erde ein gemeinsames Raumschiff in den unendlichen Weiten der Galaxien ist usw. - was vielen in einem Flugzeug beim Blick nach oben mehr Angst einjagt als der nach unten. 

Wir brauchen Kommunikation und Intersubjektivität wie
die Luft zum Atmen, weil wir dadurch erst erfahren, 
wie sehr das Leben abhängiges Werden 
(skr.: pratitya samutpāda) ist. 

Betrachten wir im Geisteszustand von śamatha (dt.: geistige Ruhe) das Geschehen auf unserem Planten wird glasklar, wie sehr wir uns eine überschäumende Objektivität mittels digitalisierter Welt vorgaukeln: Alles verpacken wir in Daten und tarnen es als vermeintlich unabhängige Fakten - obwohl es subjektive Erfahrungen und Empfindungen sind – Sein als Erlebnisse - die wir kommunikativ miteinander austauschen können, um ihre Bedeutungen zu verifizieren. Durch das kommunikative Handeln (skr.: karma), das Jürgen Habermas (Jahrgang 1929) in Theorie des kommunikativen Handelns brillant analysiert hat, treten wir in Kontakt mit anderen fühlenden Wesen, deren Universum wir niemals vollständig betreten werden. Doch anstatt uns diese Faktizität zu vergegenwärtigen (skr.: smárati), fügen wir den Aussagen im Internet auch noch das Label »Tatsachen« bei - als ob ein Baum vor uns stünde - ohne zu hinterfragen, welche Personen sich zu Auffassungen verabredet hatten. Die vorgegaukelte Objektivität der Daten lässt uns die lebensnotwendige Fähigkeit zur intersubjektiven Kommunikation nicht mehr dringlich erscheinen. 

Wollen wir uns mit Hilfe des Internets 
den Mühen des intuitiven Denkens entziehen? 
Verlernen wir durch die Digitalisierung der Lebenswelt 
das kommunikativ intersubjektive Verweilen unter Menschen? 

Es scheint fast so, als wollten wir mit Hilfe der neuen Kommunikationstechniken unsere Intersubjektivitätsbemühungen beenden. Aber weil wir alle vollständig voneinander Abhängige sind, ist es für die Menschheit von lebenswichtiger Bedeutung, dass wir analytisch den Begriff Faktum untersuchen: Bevor wir etwas wahrnehmen, das wir als Fakt bezeichnen, fanden individuelle Berührungen (skr.: sparśa) statt, die Empfindungen (skr.: vedanā) auslösten und zur subjektiven Unterscheidung (skr.: sajñā) befähigten, wodurch Gegenstände, Dinge und abstrakte Sachverhalte in die karmisch bedingten Geisterk der wahrnehmenden Wesen aufgenommen wurden. So entstanden Meinungen als je meinige Eindrücke über die äußere Welt - Sein als Erlebnisse - die wir nur kommunikativ miteinander teilen, interpretieren und intersubjektiv verifizieren können. Deshalb werden wir niemals eine absolute Wahrheit als vermeintlich hartes Faktum finden: 

Eine absolute Wahrheit ist nirgends auffindbar.

Das dürfen wir niemals vergessen, wollen wir so zusammenleben, dass Glück ein Möglichkeitshorizont bleibt. Aus der Lebensnotwendigkeit zur Intersubjektivität zwischen Menschen hat Hannah Arendt schließlich den schönen Begriff „Wirklichkeitsempfindung“[12] abgeleitet, die niemals eine objektive, unabhängige Wahrheit widerspiegeln kann, sondern stets eine subjektive und/oder intersubjektive Sicht beschreibt. Die Herausforderung, die sich aus dieser Erkenntnis ergibt ist, dass wir fokussiert kommunizieren müssen, damit wir uns verständigen können und Missverständnisse vermeiden.

cétana (dt.: wollend fokussierend zu sein)

Da scheinbar unzählige sinnliche und nicht-sinnliche Eindrücke auf uns einströmen, kann der Eindruck entstehen, wir würden hilflos in einem Ozean der Erfahrungen treiben, womit sich die Frage stellt:

Ist Geistk Opfer einer Wahrnehmungsflut 
oder haben wir eine fokussierende Fähigkeit, um
unserer Nussschale im Ozean der zahllosen Berührungen, 
Empfindungen und Unterscheidungen eine Richtung zu geben?

Da wir selbst in schwierigen Lebenssituationen in der Lage sind, fokussiert Fragen zu stellen und zu durchdenken, um Herausforderungen systematisch zu analysieren und lebenserhaltende Antworten zu finden, verfügen wir über eine fokussierende Kompetenz. Das zeigen beispielhaft die Erfolge der Impfstoffentwicklung in der globalen Pandemie seit 2020. Buddha hat die Kompetenz, dass Geistk sich auf Objekte fokussierend ausrichten kann, mit cétana (dt.: wollend fokussierend zu sein) bezeichnet. Katschen Yesche Gyältsän schreibt hierüber im 18. Jahrhundert:

„Die Geisteseigenschaft cétana (dt.: wollend fokussierend zu sein) bewegt 
Geistk auf ein Objekt und veranlasst dessen Beschäftigung damit.“

Buddhas Meditationen analysierend schreibt Asaṇga im 4. Jahrhundert:

„Der Geistesfaktor cétana (dt.: wollend zu sein, tib.: sems pa) 
ist die gestaltende Kraft von Geistk und veranlasst
uns zu karmisch wirksamen Handlungen.“

 Indem wir Geistk auf ein äußeres oder inneres Wissensobjekt ausrichten und uns damit beschäftigen, gelangen wir zu karmisch wirksamen Handlungen. Erfahrungen - sinnlicher und unmittelbarer Natur – bilden die Basis für die Fähigkeit von Geistksich auf etwas ausrichten und bewusst damit zu beschäftigen – was wir wollend nennen. Indem wir uns also darin üben, Geistk auf etwas auszurichten, halten wir das Mittel zur Gestaltung von Glück in den eigenen Händen. Ohne vormalige Erkenntnisse, die Geistk karmisch (dt.: handelnd) formten, würden wir auf den Wogen des Ozeans des Lebens hilflos hin und her geworfen, würden von einem Leid zu nächsten taumeln.

Die Geisteseigenschaft cétana (dt.: wollend fokussiert zu sein) lenkt
Geistk auf zu untersuchende Objekte und ermöglicht analytische
 und interpretierende Aktivitäten. Die Kraft des Wollens 
bewegt das Denken, Sprechen und Handeln –
in leidvolle und heilsame Richtung.

cétana ist die entscheidende Fähigkeit, die uns beispielsweise zu śamatha Meditationen befähigt. Denn um in den Geisteszustand śamatha zu gelangen, muss Geistk sich fokussierend auf ein Meditationsobjekt ausrichten. Haben wir uns einmal für ein Meditationsobjekt wie eine Vorstellung über Buddha entschieden - so die Empfehlung von erfahrenen Meditierenden, die ein Wohlsein bereits erreicht haben (skr.: sugata) – sollten wir das Meditationsobjekt nicht mehr wechseln bis der Geisteszustand śamatha erreicht wurde. 

Dass dieses Verständnis über den Willen in der europäischen Philosophie ebenfalls zu Hause ist, erfahren wir anhand Edmund Husserls (1853 – 1938) Meditationen über die Intuition, worüber er schreibt:

„Zum Denken selbst gehört ein immanenter Blick
auf das Objekt, der aus dem Ich hervorquillt. Dieser Ich-Blick
auf Etwas ist, je nach Akten, in der Wahrnehmung wahrnehmender, 
in der Fiktion fiktiver, im Gefallen gefallener Blick usw. Wir nennen das 
den Aspekt einer Intention des Bewusstseins.“[13]

Die „Intention des Bewusstseins“ – cétana - lenkt jenseits der Sinne den „geistigen Blick auf ein Objekt, der aus dem Ich hervorquillt.“ Das intendierte, fokussierte Wollen im Sinne Edmund Husserls ist kongruent mit Buddhas Beschreibungen von cétana. Ohne die Informationen, die mit cétana gekennzeichnet werden, wären wir zum Denken nicht fähig, könnten uns nicht konzentrieren und wären auch zur Kommunikation unfähig. Mittels cétana sind wir in der Lage, die je meinige Welt handelnd zu gestalten, weshalb Asaṇga vom „gestaltenden Akt“ spricht. Es liegt also in der Hand jedes und jeder Einzelnen, die Welt heilsam oder leidvoll zu gestalten.

Hieraus folgt: Je schwächer cétana (dt.: wollend fokussierend zu sein) ausgeprägt ist – etwa, weil cétana von einer autoritären Umgebung unterdrückt oder von Lehrenden, Eltern usw. nicht gefördert wird - desto schwächer sind die geistigen Kompetenzen der betroffenen Menschen; ihr Möglichkeitshorizont für ein glückliches Leben ist sodann begrenzt. Eingeschränkte Intelligenz und verminderte Konzentrationsfähigkeit sind also keine Folgen von Genen, Botenstoffen oder anderen biologischen Vorgängen, sondern Konsequenzen eines untrainierten oder durch traumatisierende respektive autoritäre Umstände blockierten Geisteszustandes. 

Die Erkenntnisse, die cétana (dt.: wollend fokussierend zu sein) bilden, befähigen uns, selbst auf Gefahren zuzugehen und Lebenssituationen so zu analysieren, dass lebenserhaltende Maßnahmen möglich werden. Ohne cétana wären Menschen - die im Vergleich zu wilden Tieren körperlich schwach und kaum überlebensfähig sind - längst untergegangen. Insofern befeuert die Forderung mancher Kampfcoaches, erfolgreiche Führungskräfte sollten sich wie Tiere verhalten, die Leiden der Menschen. 

Allerdings verfügen wir nur über eine relative Willensfreiheit, weil wir nur im Rahmen der individuellen karmischen Potenziale, die in der Vergangenheit kommunikativ handelnd erzeugt wurden, Geistk auf Objekte ausrichten und dementsprechend agieren können. Ich kann mir in meiner Phantasie zwar ausmalen, dass ich komplexe mathematische Beweise darlegen möchte, um die Ideen der Mathematik, ihre Sprache, Logik und Schönheit zu erfassen. Doch solange ich nicht über die dafür notwendigen Potenziale in Geistk verfüge, wird sich der Wunsch nicht erfüllen. 

Der Geistesfaktor cétana bewirkt eine relative Freiheit, da jeder
Mensch mit den spezifischen Einschränkungen 
seiner karmischen Potenziale lebt. 

Hieraus folgt: Ohne Schule, Bildung, Übung, Training können wir nur im Rahmen der vorhandenen Informationen in cétana und anderen cétaśika (dt.: Geistesfaktoren) die Welt wahrnehmen und entscheiden, welche Objekte untersucht und welche Handlungen – Gedanken, Rede, körperliche Akte - ausgeführt werden sollen. Dieser Umstand begründet Karl Poppers Feststellung:

„Der Geist kann nicht mehr wissen, als er schon weiß.“[14]

Zum Glück verfügen wir auch über karmische Potenziale, mit denen wir die Grenzen der relativen Freiheit des Wollens hinausschieben können, wodurch wir neue Erfahrungen in Geistk aufnehmen werden. Die Offenheit für Neues – was Neugierde genannt wird, obwohl der Begriff in die Irre führt – ist erforderlich für alle heilenden und Glück bewirkenden Veränderungen. Insofern sind Bildung und Geistesschulung – wie das Studium der buddhistischen Schriften – notwendige Mittel, um Glück zu erreichen. Die heilenden Veränderungen gelingen besonders gut, wenn wir unsere Konzentrationsfähigkeit (skr.: samādhi) trainieren und den Geisteszustand śamatha (dt.: geistige Ruhe) erreichen. Denn dann erkennen wir das Wesen von allem Existierenden: śūnyatā svabhāva (dt.: Leersein von Eigenexistenz). Wird dieser Geisteszustand erreicht, können wir nahezu alle Zusammenhänge und Ursachen für Leiden und Glück erkennen und heilende Handlungen einleiten.

 manána (dt.: bedächtig aufmerksam zu sein)

Mit dieser schönen Perspektive auf die Rolle des fokussierenden Willens (skr.: cetanā) stellt sich die Frage: Was geschieht, nachdem sich mein Geistk mittels cétana (dt.: wollend zu sein) auf ein Objekt – etwa eine Vorstellung von Buddha - ausgerichtet hat, dabei eine Berührung (skr.: sparśa) erfuhr, sodass eine Empfindung (skr.: vedanā) entstand, die mittels Unterscheidung (skr.: sajñā) in Begriffe gegossen wurde. Asaṇga, der offensichtlich die besondere Gabe besaß, seine meditativen Eindrücke sprachlich klar zum Ausdruck zu bringen, definierte dazu im Sinne Buddhas die Geisteseigenschaft manána:

„manána (dt.: aufmerksam zu sein; tib.: yid la byed pa)
ist das Eingehen des Geistes auf ein Objekt 
und hält an diesem fest.“

Aufgrund von cétana (dt.: wollend zu sein) richtet sich Geistk auf ein Objekt aus und beginnt eine Beschäftigung damit. Gelingt es Geistk, beim Meditationsobjekt zu verweilen, entsteht eine intensive Verbundenheit, sodass selbst laute Geräusche nicht mehr störend wirken. Dann ist Geistk aufmerksam und erlebt eine intensive innere Freude. 

Im Alltag verhalten wir uns leider meist wenig aufmerksam. Viel zu oft – gerade im Zeitalter des Internets - werden wir durch einprasselnde Informationsfluten berührt, erfahren dabei tausende Empfindungen und denken anschließend ständig über irgendetwas nach, sodass die Gedanken wie ein hüpfender Affe von Ast zu Ast springen. Deshalb leiden fast alle Menschen unter geistiger Unruhe, rasen die Gedanken wie rastlose Schimpansen. Folglich brauchen wir in der Regel Monate oder Jahre, um in Atemmeditationen zehn Atemzüge ohne sich dazwischenschiebende Gedanken wahrzunehmen. Doch die gute Nachricht lautet: 

Die aufmerksame Übung macht 
die Meisterin respektive den Meister aus.

 

 

[1] Nāgārjuna hatte zwei Jahrhundert zuvor von 80 Geistesfaktoren gesprochen
[2] Durch die Endung vat wird in den meisten Fällen aus einem Substantiv ein Adjektiv
[3] Die Zitate von Asaṇga und Katschen Yesche Gyältsän stammen – wenn nicht anders angegeben - aus den Unterlagen zum Systematischen Studium des Buddhismus am Tibetischen Zentrum Hamburg e.V. für das 5./6. Semester des Lehrgangs VIII
[4] Asaṇga, Abhidharma-samuccaya, S. 9
[5] Hieran zeigt sich, dass der deutsche Begriff sechster Sinn für den Geist unzureichend ist.
[6] Asaṇga, Abhidharma-samuccaya, S. 2 (eigene Übersetzung)
[7] Das Nicht-erinnern können an die Kindheit ist weiter verbreitet als wir das üblicherweise annehmen.
[8] Siehe auch: Lebenskreise (Band 1) – Kampf oder Kooperation? Kapitel: Der evolutionäre Vorteil der Kooperation, S. 122 ff
[9] Siehe Kapitel 2
[10] Siehe: Gudula List, Wie Kinder soziale Phantasie entwickeln
[11] Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes, S. 59
[12] Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes, S. 59
[13] Edmund Husserl, Phänomenologische Methode, S. 154
[14] Karl Popper, Logik der Forschung, S. 17

 

 

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