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Geist und Glück - Kapitel 2: Denken und Geist

Geist und Glück - Kapitel 2: Denken und Geist

von Hans Korfmacher

Ein Verständnis über die skizzierten Prozesse menschlicher Sinneswahrnehmungen, die wir fälschlicher Weise als unabhängig von Bedingungen und an sich existierend erachten, ist erforderlich für ein solides Verstehen dessen, was wir landläufig Denken (gr.: noein) und Geist (gr.: nous) nennen. In der philosophischen Sprache des antiken Indiens, dem Sanskrit, die eine messerscharfe Eindeutigkeit ermöglicht, werden Denken und Geist mit nur einem Begriff - cittá - belegt. Inwieweit aber liegt eine Identität der Tätigkeit - dem Denken - mit dem Tätigen - Geist – vor? Zur Kontemplation dieser scheinbar unbedeutenden Frage betrachten wir zunächst den Versuch einer Definition des Denkens, den der Philosoph Markus Gabriel (Jahrgang 1961) unternimmt: 

„Denken ist als Erfassen von Gedanken begrifflich, 
aber nicht notwendig sprachlich kodiert, 
da wir auch in Bildern denken.“[1]

 Denken bezeichnet eine universelle Tätigkeit von Geist (skr.: cittá), die offenbar jenseits von Worten stattfindet. Den elektrischen Impulsen des Nervensystems, die durch den Kontakt der Augen mit Lichtstrahlen, der Ohren mit bewegter Luft usw. sensorisch entstehen, fügen wir mittels vorhandener unbewusster Interpretationsmuster der Sinneserkenntnisarten (skr.: vijñānā), die unter anderem Bedeutungen physikalischer Impulse repräsentieren, einen spezifischen Begriff bei, den wir nachfolgend mit Worten versprachlichen. Auf diese Weise kommunizieren wir Vorstellungen (skr.: saskāra), die uns nicht oder kaum bewusst sind, da wir Worte wie Rot für selbstverständlich halten. Worte und Sätze repräsentieren Konstruktionen (skr.: saskāra) über das, was mit uns in der Welt sein könnte - wobei wir dessen Dasein sprachlich bewusst aber auch nichtsprachlich unbewusst kommunizieren. 

Die Erkenntnisse Buddha Śakyamunis über Wahrnehmung und Denken stehen im Einklang mit den philosophischen Resultaten, die sich Immanuel Kant (1724 – 1804), Georg. F.W. Hegel (1770 – 1831), Ernst Mach (1838 – 1916), Martin Heidegger (1889 – 1976) und andere Philosophierende erarbeitet hatten. In Was heißt Denken? schreibt Martin Heidegger nahezu zusammenfassend:

„Das, was Kant synthetische Urteile nennt, ist 
die neuzeitliche Auslegung eines Satzes von Parmenides.
In jenem Grundsatz sagt Kant, dass und wie das Denken, das 
heißt Vorstellen des erfahrbar Seienden hinsichtlich seines Seins ist.

Hegel hat den Kantischen Grundsatz ins Absolute versetzt, indem er 
sagte: »Sein ist Denken« (Vorrede zur Phänomenologie des Geistes).“[2]

Denken ist demnach das „Vorstellen von Erfahrbarem.“ Allerdings ist die Idee: „Sein ist Denken“ - oder wie Edmund Husserl formulierte: „Sein als Bewusstsein“ - für die meisten Menschen eine ungewohnte Perspektive. Die zugehörigen geistigen immateriellen Prozesse sind überdies – wie der Mathematiker Gottlob Frege analytisch konstatierte – individuell, da die unbewusst vorliegenden Interpretationsmuster (skr.: vijñānā) bei den allermeisten Fällen Menschen verschieden sind und doch jedem und jeder Einzelnen in Lebenssituationen Orientierung ermöglichen. 

Mit einem aufgrund von Reizen und deren Interpretationen konstruierten Sinn über das eigene Dasein und die je meinige Umwelt erzählen wir uns schließlich Geschichten über die individuellen Perspektiven auf Anordnungen und Bedeutungsinhalte der Dinge und Lebewesen, die für eine Person in einem Moment auf bestimmte Weise zusammenhängen. Hieraus entwickeln Menschen seit Jahrtausenden Konzepte, Religionen, Ideologien, Wissenschaften, kurzum: Geisteskonstruktionen, die in der buddhistischen Philosophie mit dem Begriff saṃskāra benannt werden. Wie wir noch erfahren werden, gehören auch Gefühle wie Habgier und Hass zur Gruppe saṃskāra, die Buddha zu den fünf skandha (dt.: Daseinsgruppen) zugeordnet hat.

Die Sprachphilosophie erklärt das Entstehen konstruierter Interpretationsmuster – saṃskāra - durch soziale Prozesse: Wird das Auge von einer bestimmten Wellenlänge des Lichtes berührt, fügen wir dem Reiz beispielsweise den Begriff Rot bei. Das gehört für Menschen im deutschsprachigen Lebensraum zur vereinbarten Gewohnheit. Nichtsdestotrotz können wir fragen: Warum wird eine spezifische Wellenlänge des Lichts Rot genannt und was verbinden wir mit dem zugehörigen Laut? Wir könnten dem physikalischen Reiz auch die Buchstabenfolge des Lautes Mot zuordnen. Der Sprachphilosoph Robert B. Brandom (Jahrgang 1950) erklärt:

„Etwas auszudrücken bedeutet, etwas eindeutig zu machen.
Was eindeutig ist, hat im grundlegenden Sinne einen vorgestellten Inhalt,
wie den Inhalt einer Behauptung, eines Urteils oder eines Glaubens.
Etwas eindeutig zu machen bedeutet, ihm eine Form zu geben,
sodass es eine Begründung hat oder sie erfordert.“[3]

Indem wir ein mit dem Auge wahrgenommenes physikalisches Signal als Rot bezeichnen, fügen wir dem Signal eine Vorstellung (skr.: saskāra) und eine in einer sozialen Gruppe eines Sprachraums eindeutig verabredete Begrifflichkeit bei. Ob etwas Rot oder Mot genannt wird, ist eine in einer sozialen Gruppe verabredete Konvention über einen spezifischen Inhalt. 

Zu beachten ist obendrein, dass die Bedeutung der Vorstellung über Rot vom Kontext der jeweiligen Lebenssituationen abhängig ist: Sehen wir einen roten Sonnenuntergang, kommunizieren wir das Gefühl und die Vorstellung einer vergehenden Wärme oder die Sehnsucht nach Ruhe und Geborgenheit. Sprechen wir von einem rotglühenden Waldbrand, informieren wir uns wechselseitig über eine tödliche Lebensgefahr. Unsere Vorstellungen sind von Empfindungen (skr.: vedanā) – angenehm, unangenehm, neutral – durchtränkt und gefärbt. Hieraus dürfen wir allgemeingültig schließen:

Wir verfügen über Sensoren (Sinnesorgane), 
die bei einer Berührung (skr.: sparśa) mit der Welt
spontan Empfindungen (skr.: vedanā) auslösen und
unbewusste Sinneserkenntnisse (skr.: vijñānā) bewirken,
woraufhin wir unterscheidend wahrnehmen (skr: sajñā) und 
mittels vorhandener unbewusster Sinneserkenntnisse (skr.: vijñānā)
intendierend (skr.: cetanā) aktuelle Vorstellungen (skr.: saskāra) konstruieren,
 sodass wir einen individuellen Sinn über Wahrgenommenes erzeugen, zwecks
 Kommunikation sprachlich codieren und aufmerksam sind (skr.: manaskāra).
Diese Tätigkeiten von Geist nennen wir Denken.

Die in der Definition genannten Wirkungsfaktoren hat Asaṇga in Abhidharma-samuccaya als die „fünf allgegenwärtigen Geistesfaktoren“ bezeichnet. Denn zur Wahrnehmung benötigen wir nicht nur Sensoren, sondern auch im Geist vorhandene Kompetenzen, die uns befähigen,

berührbar zu sein (skr.: sparśa)
empfindsam zu sein (skr.: vedanā)
unterscheidend zu sein (skr.: sajñā) 
wollend intendierend zu sein (skr.: cetanā)
 aufmerksam zu sein (skr.: manaskāra).

Mit dieser weiten Definition des Denkens erhalten wir eine Intuition darüber, was René Descartes - nachdem er versucht hatte, alle tradierten Vorstellungen in seinem Geist zur Ruhe zu bringen - mit dem berühmt gewordenen ego cogito ergo sum (dt.: ich denke, also bin ich) vermutlich zum Ausdruck bringen wollte, wobei Edmund Husserl kritisch anmerkte: 

„Wir wissen durch neuere Forschungen wieviel Scholastik 
im Verborgenen und als ungeklärtes Vorurteil in 
Descartes Meditationen noch steckt.“[4]

Edmund Husserl hat in Cartesianischen Meditationen wunderbar dargelegt, dass René Descartes zwar das Ziel hatte, sich all seiner Vorstellungen zu enthalten, um ein vermeintlich objektives Wissen zu erzeugen, er aber dieses Ziel weithin verfehlt hatte.

Unsere Annäherung an eine Definition des Begriffs Denken, die Buddhas Erkenntnisse ebenso abbildet wie die der westlichen Philosophie, lässt auch jene menschlichen Wahrnehmungsfähigkeiten sichtbar werden, mit denen wir Theorien über unsere Geistesprozesse und damit über uns Selbst konstruieren – und ein „Selbst-Bewusstsein“ kreieren, wie es Georg W.F. Hegel später nannte. Hierauf aufbauend haben Menschen in den vergangenen Jahrtausenden verschiedene Erkenntnistheorien und Vorstellungen über das Phänomen entwickelt, das wir mit dem Begriff Geist (skr.: cittá) kommunizieren. Erkenntnistheorien dienen dem Ziel, uns selbst und unsere Umwelt zu hinterfragen und dadurch zu lernen, wie wir Wissenshorizonte über unsere je individuelle Welt erzeugen. Insofern war Buddha Śakyamuni ein solider Erkenntnistheoretiker im guten philosophischen Sinne.

Ein „Selbst-Bewusstsein“ – ein Bewusstsein über ein Selbst – entwickeln wir durch analytisches Denken (skr.: cittá; lat.: cogito) und nicht durch Sinneswahrnehmungen, da wir Theorien nicht sehen, hören, schmecken, riechen, tasten können. Buddha Śakyamuni in Indien, Jahrhunderte später Sokrates, Aristoteles, Parmenides und andere im antiken Griechenland folgerten, dass es etwas gibt, das die mittels sensorischer Organe registrierten Sinneswahrnehmungen nicht nur koordiniert – eine bereits in der Antike überholte These des mittelalterlichen Philosophen Thomas von Aquin (1225 – 1275) - sondern durch eigene Tätigkeiten signifikant prägt.  Für diese Kompetenz schufen die Denkenden den Begriff Geist (skr.: cittá, gr.: nous, lat.: cogito) und zogen hieraus in ihrer Zeit mit ihren jeweiligen sprachlichen Mitteln die Konsequenz, Geist als sechsten Sinn zu bezeichnen, denn: 

Ohne die Tätigkeiten von Geist blieben die physikalischen Signale 
der fünf Sinnesorgane sinnlose elektrische Reize. 

In Analogie zu den fünf unbewussten Sinneserkenntnisarten (skr.: vijñānā) definierte Buddha eine sechste unbewusste mentale Erkenntnisart (skr.: mano-vijñānā). Sie ist aktiv, wenn wir einen vorhandenen Gedanken in einem inneren Geistesprozess wahrnehmen, ohne dass ein äußerer Sinnesreiz beteiligt ist - was wir achtsame Vergegenwärtigung (skr.: smti) nennen. In solchen Momenten nehmen wir eine Vorstellung (skr.: saskāra) mit Geist wahr, die mit vorhandenen Daten in der mentalen unbewussten Erkenntnisart (skr.: mano-vijñānā) abgeglichen werden. Der indisch-buddhistische Gelehrte Dharmakirti stellte hierüber in Bestimmung einer soliden Erkenntnis (skr.: pramāaviniścaya)fest:

„Ein konzeptionelles Erkennen (skr.: saskāra) geschieht durch einen mentalen
Erkenntnisakt (skr.: mano-jñānā). Das passiert ohne die Abhängigkeit von
einer Nähe oder Berührung eines verursachenden äußeren Objektes 
nur aufgrund einer Potenzialität für die Konzeptualisierung,
die im mano-vijñānā vorhanden ist.“[5]

Eine wesentliche Funktion von Geist (skr.: cittá; gr.: nous) besteht darin, dass wir unbewusste mentale Daten (skr.: mano-vijñānā) über die Welt zu Vorstellungen (skr.: saskāra) zusammenfügen, die uns zum praktischen Leben befähigen. Aber auch die umgekehrte Funktion ist bedeutsam: Wir verifizieren vorhandene Vorstellungen (skr.: saskāra) mit mentalen unbewussten Erkenntnisdaten (skr.: mano-vijñānā). Für Aristoteles war Geist denn auch der innere, psychische Sinn, der Sinneseindrücke zu einem Ganzen zusammenfügt und zur begrifflichen Unterscheidung (skr.: sajñā) befähigt. 

Alle Aktivitäten von Geist (skr.: cittá; gr.: nous), die wir im Sinne des altgriechischen Wortes noein als Denken bezeichnen, sind immaterieller Natur, selbst wenn ein Beobachtungsobjekt materieller Art vor uns liegt. Geist verarbeitet die über die sensorischen Organe eintretenden physikalischen Reize wie Licht, bewegte Luft usw. auf immaterieller Ebene mittels gespeicherter Daten der unbewussten Erkenntnisarten (skr.: vijñānā) zu mental unbewussten Informationen (skr.: mano-vijñānā). Insofern verfügen jeder und jede Einzelne über eine vormals entstandene Erkenntnisansammlung (skr.: mano-vijñānā-dhātu), die bei Kontakt mit neuen physikalischen Reizen Erkenntnisse ermöglichen oder zu synthetischen (dt.: zusammensetzende[6]) Zufügungen - wie Immanuel Kant Vorstellungen (skr.: saskāra) nannte – und somit zu Lebenshaltungen befähigen. 

Allerdings sind uns nahezu alle mentalen Erkenntnisarten (skr.: mano-vijñānā) nur selten bewusst, sodass wir meist automatisiert handeln, was die Psychologie als Reiz-Reaktions-Mechanismus bezeichnet. Hierbei werden interpretierend Ideen über das sensorisch Registrierte genutzt und im Geist zwecks zukünftig intendierten Erkennens gespeichert. Die Prozesse sind so rasant, dass wir landläufig von Instinkten sprechen. Doch dieser Begriff führt in die Irre, da er einen Handlungsursprung kennzeichnet, der unkontrollierbar und unveränderbar ist. Das mag für Tiere teilweise stimmen, da sie fressen müssen. Es trifft aber nicht für meditierende Menschen zu, die über Wochen fasten können, wenn sie ihren Geist darauf ausrichten. Deshalb hatte Edmund Husserl die Intention als ein „ausgerichtet-sein des Geistes auf ein Objekt“ definiert, was in Sanskrit dem Geistesfaktor cetanā entspricht.

Die Betrachtung der Wahrnehmungsprozesse hilft uns, die von Buddha Śakyamuni in verschiedenen Lehrreden (skr.: sūtra)[7] erläuterten und in den Kommentaren des Abhidharma-kosha[8] kondensierten achtzehn Elemente (skr.: dhātu) zur Beschreibung der individuellen Lebenswelten zu verstehen. Sie sind individuell, da sich die Daten der sechs unbewussten Erkenntnisarten (skr.: vijñānā) von Mensch zu Mensch unterscheiden, was sich aus der karmischen Historie ihres Entstehens ergibt. Asaṇga hat die Elemente (skr.: dhātu) in seiner Schrift Abhidharma-samuccaya[9]beschrieben, die ich mit folgenden Worten übersetze:

„Es gibt achtzehn Elemente (skr.: dhātu):

  • Das Element des Auges (skr.: cākur-dhātu)
  • Das Element des Sichtbaren (skr.: rupa-dhātu)
  • Das Element der erzeugten Seherkenntnis (skr.: cākur-vijñānā-dhātu)
  • Das Element des Ohrs (skr.: śrotra-dhātu)
  • Das Element des Hörbaren (skr.: śábda-dhātu)
  • Das Element der erzeugten Hörerkenntnis (skr.: śrotra-vijñānā-dhātu)
  • Das Element der Nase (skr.: ghrāa-dhātu)
  • Das Element des Riechbaren (skr.: gandhá-dhātu)
  • Das Element der erzeugten Riecherkenntnis (skr.: ghrāa-vijñānā-dhātu)
  • Das Element der Zunge (skr.: jihvá-dhātu)
  • Das Element des Schmeckbaren (skr.: rāsana-dhātu)
  • Das Element der erzeugten Geschmackserkenntnis (skr.: jihvá-vijñānā-dhātu)
  • Das Element des Körperlichen (skr.: kaya-dhātu)
  • Das Element des körperlich Berührbaren (skr.: sparśa-dhātu)
  • Das Element der erzeugten Körpererkenntnis (skr.: kaya-vijñānā-dhātu)
  • Das Element des Mentalen (skr.: mano-dhātu)[10]
  • Das Element des geistig Wahrnehmbaren (skr.: dharma-dhātu)
  • Das Element der erzeugten mentalen Erkenntnis (skr.: mano-vijñānā-dhātu).“

Die Psyche (dt.: Geist; skr.: cittá, gr.: nous; engl.: mind, tib.: sem; chin.: hsin) - ein Begriff, den die alten Griechen seit Homer (800 v. Chr.) zusätzlich mit der Konnotation (dt.: Bedeutungsinhalt) Lebenshauch belegten - ist sowohl Subjekt als auch Resultat individueller Wahrnehmungs- und Konstruktionsprozesse, was auf einen sich selbsttragenden (autopoietischen) Prozess hinweist, wie ihn der chilenische Biologe und Philosoph Humberto Maturana (Jahrgang 1928) beschreibt:

„Unabhängig von den Sinneskanälen, über die eine Erfahrung abläuft,
und unabhängig von den Umständen, in denen sie geschieht,
ist eine Klassifikation als Wahrnehmung oder Illusion
durch Beobachtende nur mit Bezug auf vorherige
Erfahrungen möglich, die selbst wieder als Wahrnehmung
oder Illusion klassifiziert werden, wenn sie sich auf vorherige 
Erfahrungen beziehen, die den gleichen Zweifeln unterliegen.“[11]

Zur Klassifikation von Wahrnehmungen stützen wir uns auf Erinnerungen, die im Geist gespeichert vorliegen. Die angestrebte Eindeutigkeit von Vorstellungen wird aber nur selten erreicht – was Gottlob Frege mehrfach anmerkte. Vergegenwärtigen wir uns: Aus dem Zusammentreffen der drei Elemente - sensorisches Organ, Wahrnehmungsobjekt und die aufgrund gemachter Erfahrungen vorliegenden unbewussten Erkenntnisarten (skr.: vijñānā) über eine mögliche Bedeutung des Wahrgenommenen - entsteht mittels der Tätigkeiten im Geist (skr.: cittá), dem Denken (gr.: noein), eine je aktuell konstruierte Vorstellungswelt (skr.: saskāra), die wir als Wirklichkeit oder Illusion bezeichnen und deren Essenzen wir in den mentalen unbewussten Erkenntnissen (skr.: mano-vijñānā) für weitere Erfahrungsprozesse speichern.

Durch Wahrnehmung und Denken überführen wir die äußere Welt in eine
innere geistige Welt, in der jeder und jede Einzelne leben,
die wir fortan Vorstellungswelt nennen.

Edmund Husserl (1859 – 1938) hat über die Vorstellungswelten des Menschen vermutlich zeitlebens meditiert. Ohne die Parallelen zu Buddhas Lehre zu erahnen, hat er den „Gesamtbestand aller intentionalen Erlebnisse eines Subjekts“ als „Intentionalität des Denkens“ bezeichnet.[12] Das kommt der Bedeutung des buddhistischen mano-vijñānā insofern nahe, da aufgrund der in mano-vijñānā (dt: unbewusste mentale Erkenntnis) und saskāra (dt.: Vorstellung, Konstruktionen, gestaltende Faktoren) vorliegenden Informationen wir Absichten, Intentionen (skr.: cetanā) hegen, die uns zu spezifischen Interpretationen und Handlungen veranlassen, uns aber kaum bewusst sind. 

Damit stoßen wir auf jene Frage, die Philosophierende seit Jahrhunderten beschäftigt: 

Worin unterscheiden sich Wirklichkeit und Illusion?

Immanuel Kant entwarf aus seiner philosophischen Perspektive eine Antwort, die unser modern genanntes, naturwissenschaftlich geprägtes Weltbild grundlegend prägt:

„Wirklichkeit ist das, was mit einer Wahrnehmung nach
den Gesetzen des empirischen Fortgangs in einem Kontext steht.“[13]

Je öfter wir aufgrund vergleichbarer Reize ähnliche Vorstellungen (skr.: saskāra) konstruieren, desto besser korreliert der resultierende Zustand der unbewussten Erkenntnisse (skr.: vijñānā) mit bereits eingelagerten Geisteshaltungen (skr.: mano-vijñānā), sodass wir intuitiv (dt.: ohne sinnliche Aktivität) von einer Wahrnehmung und deren Bedeutungsinhalte überzeugt werden. Dann nehmen wir das Wahrgenommene als wahr an, kennzeichnen es als Tatsache, Fakten oder Wirklichkeit. Aufgrund dieser Idee fordern experimentelle Wissenschaften die Reproduktion von Versuchsergebnissen, wodurch eine Theorie verifiziert oder falsifiziert werden könnte. Der Unterschied zwischen Wahrheit und Illusion bestünde demnach in der Wiederholbarkeit und Regelhaftigkeit des sinnlich Erfahrbaren und geistig Konstruierten. 

Diese Erkenntnis Immanuel Kants über Wirklichkeit und Illusion hatte bereits der irische Theologe und Philosoph George Berkeley (1685 - 1753) zum schönen Satz verdichtet:

„Das Sein einer Idee besteht im Wahrgenommen-werden“[14],

womit er Georg W. F. Hegels „Sein ist Denken“ und Edmund Husserls „Sein als Bewusstsein“ ebenfalls vorweggenommen hatte. 

Immanuel Kants Idee zur Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Illusion zeitigt heutzutage dramatische Konsequenzen: Seine Idee lässt nahezu alle Menschen in der Lebenshaltung verharren, Wiederholungen und Gewohnheiten seien angemessene Handlungsweisen. Das mag für einfache Prozesse und Experimente sinnvoll sein, weil ich mehrmals täglich ein Glas Wasser trinken muss, um nicht zu verdursten. Doch die Gewohnheit, mittels fossiler Energien globale Mobilität und Wohlstand generieren zu wollen, ist für die Menschheit lebensbedrohlich geworden. Verbrennen wir weiterhin aus Gewohnheit Holz, Kohle, Öl und Erdgas, katapultieren wie den Planeten in einen mehr als 5 Grad Celsius wärmeren Energiezustand. In einer resultierenden Warmzeit wäre der Meeresspiegel mehr als zehn Meter höher als heute, sodass deutlich weniger als zwei Milliarden Menschen[15] darin Platz zum Leben finden könnten, weil die bewohnbaren Landstriche weniger würden. Auf dem Weg in eine Warmzeit würde ein Massensterben von Menschen und Tieren stattfinden, das die fürchterlichsten Beschreibungen von Apokalypsen in den Schatten stellt.

Über den Geist

Über den Begriff Geist (skr.: cittá; wortwörtlich: das was uns zum Wahrnehmen befähigt) schreibt Asaṇga in Abhidharma-samuccaya nüchtern und zugleich erwartungsfroh:

„Und jetzt: Was ist Geist (skr.: cittá)?
Es ist Speicherbewusstsein (skr.: sarvabijakam-ālaya-vijñānām), 
in dem alle karmischen Samen eingelagert sind, durchtränkt von Essenzen
der Daseinsgruppen (skr.: skandha), Elemente (skr.: dhātu) und 
Sphären (skr.: āyatana).“[16]

Asaṇgas Abhidharma-samuccaya gehört zur buddhistischen Schule Cittámatra (dt.: Nur-Geist-Schule) - auch Yoga-cāra genannt. Der Begriff Geist (skr.: cittá) wird in dieser Denkschule als eine Art des mano-vijñānā (dt.: unbewusste mental Erkenntnis) verwendet, das in Sanskrit als sarvabijakam (dt.: alle durch Handlungen erzeugten Samen) ālaya (dt.: Stätte) vijñānām (dt.: unterscheidende Erkenntnis) bezeichnet wird. Im sarvabijakam-ālaya-vijñānām (dt.: Stätte, in der alle durch Handlungen entstandenen Samen/Potenziale vorliegen, die zur unterscheidenden Erkenntnis befähigen) sind alle durch Handlungen (skr.: karma) erzeugten - metaphorisch gesprochen: Samen, Eier, Anlagen, Potenziale - gespeichert, die von den Essenzen der Daseinsgruppen (skr.: skandha), Elemente (skr.: dhātu) und Sphären (skr.: āyatana) durchtränkt sind.

sarvabijakam-ālaya-vijñānām benennt
karmisch (dt.: aufgrund von Handlungen) bedingten Geistk.

Was wir karmisch bedingten Geist(gesprochen: Geist ist eine Funktion von karma oder kurz: Geist von k) nennen, ist mit gewöhnlichem Denken nicht aufspürbar, da wir uns in den geschäftigen Welten an Konzeptionen und Vorstellungen binden, die unmittelbare Erfahrungen behindern. Stattdessen ist eine meditative Versenkung (skr.: samādhi) erforderlich, die Erfahrungen jenseits des rationalen Denkens ermöglicht – was manche bereits als irrational bezeichnen, da es ihnen Angst einflößt. Meditative Versenkungen (skr.: samādhi) ermöglichen eine Evidenz, die Edmund Husserl in seiner 1929 in Paris gehaltenen Vorlesung Cartesianische Meditationen genial definiert hat:

„Evidenz ist im allerweitesten Sinne eine Erfahrung von
Seiendem und So-Seiendem, ein Es-selbst-geistig-zu-Gesicht-bekommen.“[17]

Die Husserl’sche Vorstellung von Evidenz[18] entspricht dem, was in der buddhistischen Terminologie „unmittelbare Erfahrung“ oder „Gewahrsein“ genannt wird. In diesem Geisteszustand bekommt ein meditierender Mensch ein Phänomen unmittelbar geistig zu Gesicht. Die Evidenz wird ermöglicht, wenn wir alle vorhandenen Konzeptionen und Vorstellungen (skr.: saskāra) und damit einhergehende Gefühle, Bilder usw. – wie es Edmund Husserl in Idee zu einer reinen Phänomenologie beschrieben hat – „ausschalten“ oder „einklammern“. Insofern ist die Husserl`sche Evidenz gänzlich anders als die naturwissenschaftliche, die von Konzepten und Theorien abhängig ist. Das Ausschalten oder Einklammern von Vorstellungen, Konzeptionen, Theorien usw., so Edmund Husserl, ermöglicht eine herausragende Wirkung:

Die Thesis [ Konzeption], die wir vollzogen haben,
geben wir nicht preis, wir ändern nichts an ihrer Überzeugung.
Und doch erfährt sie eine Modifikation – während sie in sich verbleibt,
was sie ist, setzen wir sie außer Aktion, wir schalten sie aus,
wir klammern sie ein. Sie ist weiterhin vorhanden,
wie das Eingeklammerte in einer Klammer.
Die Vorstellung ist Erlebnis, aber wir
machen keinen Gebrauch von ihr.“[19]   

 Mit der Husserl’schen Einklammerungsmethode wird „Urteilsenthaltung“ möglich, da wir sodann nicht mehr konstruierten Vorstellungen (skr.: saskāra) blindlings hinterherlaufen. Stattdessen erfahren wir unmittelbar Lebenswelt. Wollen wir erfahren, was diese Husserl`sche Einklammerungsmethode für uns bedeutet, können sich jeder und jede Einzelne auf ihre frühesten Kindheitserinnerungen beziehen. Kleinkinder im Alter von bis zu vier bis fünf Jahren sind noch kaum von den Konzepten und Vorstellungswelten der Erwachsenenwelt geprägt, sind noch nicht in die gesellschaftlichen Vorstellungswelten und damit einhergehende Vorurteile integriert:

 Eine meiner frühen Kindheitserinnerungen beschreibt Gefühle als ich
vier Jahre alt war. Ich war bereits seit einem Jahr im Kindergarten, 
doch zu Beginn des zweiten Jahres kam die dreijährige Bettina 
in unsere Spielgruppe. Wir spielten und lachten, waren 
unbeschwert und erlebten pure Lebensfreude.

Kindlich unbekümmertes Spielen, das fast alle Kinder weltweit erleben dürfen, steht im Kontrast zu dem, was die meisten Menschen in späteren Jahren erleben und aufgrund von Vorstellungswelten erleiden müssen. Als Kleinkinder erfahren wir noch das Dasein und Sosein des Existierenden, die pure, nackte Existenz. Das wird erneut möglich mit der Einklammerungsmethode, denn

„wie es meine volle Freiheit ist, negiere ich diese Welt nicht,
als wäre ich ein Sophist, ich bezweifle ihr Dasein nicht, als wäre ich Skeptiker;
aber ich übe die phänomenologische εποχη (Epoché; dt.: Zeitabschnitt),
die mir jedes Urteil über räumlich-zeitliches Dasein verschließt.
Alle auf die natürliche Welt bezüglichen Wissenschaften
schalte ich aus, ich mache von ihren Geltungen
keinen Gebrauch mehr.“[20]

Schalten wir in Meditationen alle Konzeptionen und Vorstellungen (skr.: saskāra), die wir durch das Erlernen von Mathematik, Physik, Chemie usw., Religionen, spirituellen Ideen, Lebenshaltungen und gesellschaftlicher Gewohnheiten erzeugten und unbewusst in allen Lebenssituationen zur Anwendung bringen, Schritt für Schritt aus - was schwieriger zu realisieren ist, als es sich anhört - enthalten wir uns dem Urteilen über diese oder jene Objekte, Personen usw. Stattdessen erfahren wir ihr „bloßes Dasein“,  

„dass die Umwelt keine Welt an sich ist, sondern Welt für mich,
eben Umwelt meines Ichsubjektes, von ihm erfahrene oder
sonst wie bewusste, in dessen intentionalen Erlebnissen
mit einem jeweiligen Sinngehalt gesetzte Welt ist.
Als solche ist sie immerfort im Werden.“[21]

Die je meinige Welt ist „intentionales Erlebnis“, das aufgrund der in meinem karmisch bedingten Geistk vorhandenen Potenziale, die sich spezifisch auf die Welt ausrichten, fortwährend entsteht. Meine Welt befindet sich immerfort im Werden. Edmund Husserls spricht denn auch von einem „transzendental-phänomenologischen Ich“[22], das mit dieser Methode die Grenzen der Erfahrung und der sinnlich erkennbaren Welt überschreiten kann. Seine brillante Idee des Ausschaltens von Vorstellungen und Konzepten (skr.: saskāra) - mit denen wir im praktischen Leben die individuelle Vorstellungswelt im Geistk konstituieren und gestalten, weshalb die Elemente der Gruppe saskāra gestaltende Faktoren genannt werden - verdeutlicht die Erkenntnisse Buddha Śakyamunis über je individuellen Geistk und dessen werdender Welt:

Wir konstituieren im individuell karmisch bedingten Geistk ständig eine
Vorstellungswelt aufgrund unbewusster Erkenntnisse (skr.: vijñānā), 
die zur unterscheidenden Wahrnehmung (skr.: sajñā) befähigen 
und resultierende Konstruktionen (skr.: saskāra) ermöglichen
mit denen wir die individuelle Welt gestalten, die sich im
abhängigen Werden (skr.: pratitya samutpāda) befindet. 

Aufgrund dieser ersten Analyseergebnisse – die nur durch Denken und damit unter der Voraussetzung, dass Menschen zum Denken fähig sind, ermöglicht werden - ergeben sich grundlegende Konsequenzen für die Suche nach einem Sinn des Lebens: 

(a) Zum einen können jeder und jede Einzelne nur das sehen, hören, riechen, schmecken, tasten, denken und fühlen, wofür entsprechende, karmische bedingte Vorstellungen (skr.: saskāra) und unbewusste Erkenntnisse (skr.: sarvabijakam-ālaya-vijñānām) gespeichert vorliegen, die aufgrund vormaliger Handlungen (skr.: karma) mittels geistiger Prozesse entstanden und das je individuelle Leben fließend prägen: 

Die im Geistk vorhandenen Daten in Form von Vorstellungen (skr.: saskāra) 
und unbewussten Lebenshaltungen (skr.: mano-vijñānā) bedingen die 
je individuellen Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten. 

Je eingeschränkter die individuellen Vorstellungen (skr.: saskāra) und unbewusste Lebenshaltungen (skr.: mano-vijñānā) sind, desto kleiner ist der individuelle Wahrnehmungs- und Möglichkeitshorizont; deshalb erweitert Bildung den Blick auf die Welt. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein (1889 – 1951) hat – vermutlich ebenfalls ohne buddhistisches Vorwissen – das in den schönen Satz gekleidet:

„Was wir nicht denken können, können wir nicht denken;
wir können also nicht sagen, was wir nicht denken können.“[23]

Im Sinne eines erweiterten Informationsbegriffs können wir über karmisch bedingten Geistk nun schreiben: 

Karmisch bedingter Geistk ist unablässig werdendes Resultat von in unbewussten Informationen (skr.: mano-vijñānā)
und Konzeptionen (skr.: sa
skāra) gespeicherten Handlungsanweisungen (Algorithmen), die uns Situationen
erleben und handeln lassen und sich bei ihrer Anwendung wandeln.

Karmisch bedingter Geistk existiert nicht aus sich heraus, 
befindet sich immer in fließend abhängigem Werden 
durch Interaktion (skr.: karma) mit dem Draußen.

Karmisch bedingter Geistk und die zugehörigen geistigen Prozesse befinden sich in einem abhängig fließenden Werden (skr.: pratitya samutpāda), das durch die Tätigkeiten im Geistk – dem Denken – und resultierende Handlungen (skr.: karma) wie Reden und physische Aktivitäten angetrieben werden. Insofern ist es sprachlich gerechtfertigt, Geist und Denken mit einem Begriff - cittá - zu belegen, was sowohl die Klarheit der philosophischen Sprache Sanskrit als auch das cartesianische ego cogito, ergo sum bestätigt.

Gelangen wir mit den je individuell zur Verfügung stehenden Kompetenzen von Geistk in eine spezifische Lebenssituation, in der bekannte Wahrnehmungs- und Handlungsmuster in Frage gestellt werden – beispielsweise während existenzieller Krisen – versuchen die meisten Menschen verzweifelt, solange wie möglich im Raum eingeübter Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten zu verbleiben. Wir wollen uns an altbekannte Vorstellungen klammern, selbst wenn dafür abstruse Erklärungen erforderlich sind. Insofern weisen Verschwörungstheorien - die in Krisen vermehrt auftreten - auf den schmerzhaften Versuch hin, das Vorhandensein einer neuen Lebenssituation zu negieren.

Doch anstatt abstrusen Erklärungsmuster zu folgen, können wir in schwierigen Lebenssituationen auch Vorstellungen (skr.: saskāra) aktivieren, mit denen wir die jeweilige Herausforderung meistern können. Jeder und jede Einzelne verfügen über heilsam wirkende Geistespotenziale (skr.: kúśala karma), die in der Vergangenheit karmisch (dt.: durch Handlungen) angesammelt wurden. Die heilsamen Geistespotenziale (skr.: kúśala karma) können in schwierigen Lebenslagen aktiviert werden beispielsweise durch das Rezitieren - laut oder still - des folgenden Mantra:

om múni pādma hu

Ich habe gezielt ein kaum bekanntes Mantra ausgewählt, da wir ständig in der Gefahr leben, Mantras bewusstlos zu murmeln und wir ihre Bedeutung nicht erkennen. Viele Meditierende im Westen wissen nicht einmal, dass alle buddhistischen Mantras in Sanskrit geschrieben sind; obendrein werden leider die zugehörigen Sanskritworte oftmals falsch geschrieben. Mit dem Rezitierende des Mantra om múni pādma hu bitten Meditierende Buddha Śakyamuni um Hilfe. Währenddessen wird Buddha im Raum visualisiert, sodass er mir nach einiger Zeit vor dem geistigen Auge erscheint. Das Mantra unterscheidet sich vom viel bekannteren om mani pādma hu, mit dem Avalokiteśvara - Bodhisattva des umfassenden Mitgefühls (skr.: karuṇā) – um Hilfe gebeten wird. Die Sanskritworte om múni pādmahuṁ kommunizieren folgende Bedeutung:

  • Die Silbe ombringt ein Anrufen, einen Hilferuf zum Ausdruck wie die deutsche Silbe 
  • Das Wort múni steht für Buddha, Weiser, Helfender usw. im Sinne einer Person, bei der ich Hilfe und Zuflucht suchen will, da ich ihr vertraue. 
  • pādmaist der Sanskritbegriff für Lotusblüte. Sie hat die Eigenschaft, dass von ihr jeglicher Schmutz und Schlamm abperlen. Im Kontext dieses Mantra wird damit ausgedrückt, dass die äußeren oder inneren Leidensursachen, die mir begegnen, mich nicht berühren sollen, von mir abperlen sollen, damit ich das dadurch mögliche Leid nicht erlebe und mein Geistknicht in Unruhe gerät. Die Metapher verdeutlicht, wie blumig die Sprache Sanskrit ist.
  • Die Silbe hu(gesprochen: hung) ist eine Verstärkung wie das Amen in der Kirche. Damit ergibt sich die Bedeutung:

Oh, weiser Buddha, hilf‘ mir, dass die Leiden 
an mir abperlen; so möge es sein.

Mit dem Rezitieren des Mantra wird zwar Buddha um Hilfe gebeten, doch tatsächlich werden heilsam wirkende, inneren Stärken aktiviert. Durch die Vergegenwärtigung von Buddha (skr.: smti) wird ein drohendes Leid mich tatsächlich nicht oder kaum berühren, sodass mein Geistk selbst in existenziellen Situationen Ruhe bewahren kann. Die Wirkung dieses Mantra wird verstärkt durch vier Wünsche, die als Vier Unermesslichkeiten: Liebe, Mitgefühl, Freude, Gleichmit bezeichnet werden, da dadurch unermesslich viele und unermesslich starke heilsame Kräfte freigesetzt werden:

Liebe: Möge ich Glück erleben und über die Ursachen für Glück verfügen. 
Mitgefühl: Möge ich frei von Leid und leiderzeugenden Ursachen sein. 
Freude: Möge ich Glück erleben, das frei von allen Leiden ist. 
Gleichmut: Möge ich in Gleichmut verweilen, 
frei sein von Anhaftung und Ablehnung. 

Das Rezitieren in der Ich-Form wird zu Beginn solange praktiziert bis Selbstliebe und Selbst-Bewusstsein entwickelt sind, sodass sie als „intentionale Erlebnisse“ im eigenen Geistwirken. Das wirkt heilsam, weil viele Menschen sich aufgrund ihrer Vorstellungen als minderwertig bewerten, was in schwierigen Zeiten hinderlich ist. Es handelt sich allerdings um eine nicht-narzisstische Selbst-Liebe, sodass nachfolgend die guten Wünsche auf andere ausgerichtet werden können mit dem Rezitieren der Du-Form: 

Liebe: Mögest Du Glück erleben und über die Ursachen für Glück verfügen.
Mitgefühl: Mögest Du frei von Leid und leiderzeugenden Ursachen sein.
Freude: Mögest Du Glück erleben, das frei von allen Leiden ist.
Gleichmut: Mögest Du in Gleichmut verweilen,
frei sein von Anhaftung und Ablehnung.

Nachdem ich die Vier Unermesslichkeiten auf mir bekannte Menschen ausgerichtet habe, kann ich das Mantra durch das Sprechen der Ihr-Form auf viele Menschen oder die gesamte Menschheit ausrichten:

Liebe: Möget ihr Glück erleben und über die Ursachen für Glück verfügen.
Mitgefühl: Möget ihr frei von Leid und leiderzeugenden Ursachen sein.
Freude: Möget ihr Glück erleben, das frei von allen Leiden ist.
Gleichmut: Möget ihr in Gleichmut verweilen, 
frei sein von Anhaftung und Ablehnung.

Mit Hilfe solcher sprachlichen Mittel werden heilsam wirkende Vorstellungen aktiviert, die bei jedem Menschen vorliegen und Ängste vor Schmerzen oder dem Tod abmildern. Sie helfen, Geistk selbst in extremen Lebenssituationen, die nicht mehr abzuwenden sind, in Ruhe zu versetzen. So gelang es mir mit dieser Methode 2010 auf dem Flug von Barcelona nach Düsseldorf während eines schweren Herzinfarktes, den ich nicht mehr abwenden konnte, meinen Geist so in Ruhe zu bringen, dass weder die Sanitäter auf dem Rollfeld in Düsseldorf noch eine Ärztin in einem nahegelegenen Krankenhaus zunächst den Infarkt erkennen konnten. Nur meine Beschreibung der Symptome veranlasste die Ärztin, mich ins das nächstgelegene Herzkatheterlabor transportieren zu lassen, wo ein schwerwiegender Herzinfarkt diagnostiziert wurde.  

(b) Eine weitere Konsequenz aus der Erkenntnis, dass jeder und jede Einzelne nur das sehen, hören, riechen, schmecken, tasten, denken und fühlen können, wofür entsprechende, karmische bedingte Vorstellungen (skr.: saṃskāra) und unbewusste Erkenntnisse (skr.: sarvabijakam ālaya-vijñānām) gespeichert vorliegen, lautet: Das, was wir karmisch bedingter Geistk (skr.: cittá; gr.: nous; engl.: mind; tib.: sem; chin.: hsin) nennen, ist nichts Beständiges, nichts aus sich heraus Existierendes und schon gar nichts Unabhängiges, dem eine Eigenexistenz zugewiesen werden könnte. Geistkbefindet sich durch Handeln (skr.: karma) im abhängig fließenden Werden (skr.: pratitya samutpāda), sodass Geistkkein singuläres Ding oder Objekt ist, das wir als Entität irgendwo finden könnten. Geistk ist vielmehr als werdendes Multiples zu denken mit unzähligen fließend werdenden Facetten und Potenzialen, weshalb in buddhistischen Schriften vielfach von einem Geistesstrom gesprochen wird. Die unbeständig werdenden multiplen Eigenschaften von cittá werden in der buddhistischen Literatur auch mit der Metapher einer Wolke umschrieben: 

Geist und Wolken existieren zwar, sind aber nicht greifbar, weil sie sich 
in abhängig fließendem Werden (skr.: pratitya samutpāda) befinden. 
In allen Phasen des Lebens sind wir wie Wolkenformationen, die
über die Lande ziehen, niemals greifbar, werdend vorhanden.

Philosophisch wird im Buddhismus die grundlegende Existenzweise von cittá mit dem Sanskritbegriff śūnyatā svabhāva (dt.: leer von Eigenexistenz) gekennzeichnet. Denn wie bei einer Bananenstaude kann beim karmisch bedingten Geistk kein Kern, kein Stamm, keine Essenz, keine Hülle aufgefunden werden, was sich sprachlich im Begriff cittá sowohl für Denken als auch Geist widerspiegelt. Karmisch bedingter Geistk befindet sich wie alle Phänomene des Universums im fließend abhängigen Werden, was der Sanskritbegriff pratitya samutpāda zum Ausdruck bringt. Die alten Griechen nutzten zur Kommunikation dieser klaren Erkenntnis die Worte panta rhei (dt.: fließendes Werden), die alten Römer sprachen von in statu nascendi (dt.: im Zustand des Geborenwerdens). 

Wir können daher die Vorstellung, cittá, Geistk sei ein Ding oder Objekt, eine unabhängige und unveränderliche Entität oder ein stabiles Gefäß, in dem Informationen gesammelt würden, gelassen beenden. 

Das abhängig fließende Werden (skr.: pratitya samutpāda) 
von je individuellem Geistk zu erkennen und die Illusion
eines beständigen, inhärenten ICHs aufzugeben, 
ist eine der Herausforderungen im Leben.

Im Osten wie im Westen sowie anderen Weltregionen entwickelten sich in den Jahrhunderten selbstredend verschiedene Erkenntnistheorien. Denn Menschen erleben unter verschiedenen Lebensbedingungen differierende Erfahrungen, die sie als akzeptabel oder nicht-akzeptabel einstufen, ergo unterschiedlich bewerten und sprachlich divergierend ausdrücken. So konnten regionale Zustände des mental Unbewussten (skr.: mano-vijñānā) entstehen, sichtbar an über sechstausend Sprachen und vielfältigen Weltbildern (gr.: parádeigma, skr.: saskāra) auf allen Kontinenten. 

Gemeinsam ist allen Erkenntnistheorien, dass Menschen mit ihrer Hilfe versuchen zu verstehen, wie sie die Welt mit ihrem Geistk erkunden und intentional konstituieren. Mit der Untersuchung der Erkenntnisprozesse erforschen Menschen implizit die Tätigkeiten ihres Geistesk - was Sokrates als noein (dt.: Denken) und als dessen Haupttätigkeit bezeichnet hat - und hoffen, so etwas über sich selbst zu erfahren. Die möglichen Selbst-Erfahrungen sind für jede und jeden Einzelnen bedeutsam, weil Geistk das Leben jedes Menschen in jedem Moment prägt und beispielsweise versucht abzuschätzen, ob in einer Situation eine Lebensgefahr droht oder nicht. 

Die permanente Evolution von Erkenntnistheorien ist jedoch – wie es der Philosoph Ernst Bloch (1885 – 1977) einst formulierte – ein nicht endender Prozess, denn: 

„Die Philosophie lebt vom Fortbestehen des Staunens, 
da die Antworten, die wir finden, nie genügen, nie reif sind.“[24]

Es stellt sich mithin die Frage, ob die Suche der westlichen Philosophie nach einer wie auch immer gearteten „absoluten Wahrheit“ jemals von Erfolg gekrönt sein kann - da die „Antworten, die wir finden, nie genügen, nicht reif sind“. Wäre ein dynamisches Verständnis über die Liebe zur Wahrheit (Philosophie) angemessen und heilsam?

Erkenntnistheorien sind im heutigen Wissenschaftsbetrieb leider kaum mehr von Interesse. Glauben doch die technisch orientierten Naturwissenschaftler und Naturwissenschaftlerinnen zu wissen, wie Wahrnehmungen und damit ihre Welt funktionieren würden. Ihre systemimmanente Wissenschaftstheorie haben sie folglich zur einzig relevanten erklärt. Philosophie ist in ihren Augen ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten als ausgefeilte naturwissenschaftliche Experimente noch nicht zur Verfügung standen. Erkenntnistheorien hat die Naturwissenschaftsgemeinde folglich mit gewisser Überheblichkeit in die Philosophiegeschichte abgeschoben und glaubt ganz fest, sie könnte absolute Wahrheiten experimentell ermitteln. Doch das ist - besonders in Zeiten von Pandemien und drohender Klimakatastrophe - lebensgefährlich. 

Denn die Geistesshaltung: „Ich kenne die absolute Wahrheit“ und „Ich finde in Experimenten eine absolute Wahrheit“ hat das Nachdenken der Menschen über den je individuell karmisch bedingten Geistk – cittá - und damit der Menschheit über sich selbst in allen Zeiten behindert. Erfahrungswissenschaften wie Biologie, Betriebs- und Ingenieurwissenschaften, Medizin, Verhaltenspsychologie usw. können sich nur beschreibend mit ihren Untersuchungsobjekten beschäftigen. Mit ihren deskriptiven Methoden können sie das Werden so wenig erkunden, wie ein Spiegel sich selbst nicht sehen kann. Stattdessen verführt die an Arroganz grenzende Selbstverliebtheit der experimentellen Naturwissenschaften Menschen zur leidvollen Ansicht (skr.: akuśala dṛṣṭi): 

Gehirn und Geist seien identisch und genetisch determiniert. 

Doch diese Hypothese ist ein Trugschluss der sich modern nennenden Wissenschaftsgemeinde, da sie auf der Annahme einer inhärenten Existenz des Materiellen basiert. Einen klaren Hinweis für die fulminante Fehleinschätzung des Materialismus gab der 14. Dalai-Lama während einer Konferenz mit Naturwissenschaftlerinnen[25] am 4. Mai 2018 in Dharamsala, Indien, der ich per Livestream beiwohnen konnte. Zur Überraschung der Anwesenden hob er plötzlich an und erklärte:

„Ab der 26. Schwangerschaftswoche kann sich ein Fötus an
vormalige Existenzen erinnern. Über diese Kompetenz verfügen
alle Babys und Kleinstkinder. Erst mit fortschreitender Entwicklung
des Gehirns und der Ausrichtung an aktuelle Erfordernisse
werden ihre Erinnerungen schwächer.“

Als ich am Bildschirm in die erstaunten Gesichter der anwesenden Naturwissenschaftler und Naturwissenschaftlerinnen sah, musste ich spontan lachen. Ja, Erinnerungen an vormalige Existenzen sind für Babys und Kleinstkinder eine normale Fähigkeit und nicht an das sich entwickelnde materielle Gehirn gebunden, woraus folgt: Geist und Gehirn sind nicht identisch. Stattdessen schwächt die fortschreitende Gehirnentwicklung des Kindes dessen Erinnerungsfähigkeiten an vormalige Existenzen. Mit dieser überraschenden Erkenntnis können wir fragen: 

Wenn Geist und Gehirn verschieden sind,
wie sieht ihre Beziehung aus?

Das zu untersuchen und zu kontemplieren bleibt Aufgabe der Philosophie als Wissenschaft des Geistes. Selbstredend sind naturwissenschaftliche Erkenntnisse einzubeziehen, die spezifische Facetten von Vorstellungswelten (skr.: saskāra) repräsentieren. Allerdings sind sie stets kritisch zu hinterfragen, um dahinterliegende unbewussten Interpretations- (skr.: vijñānā) und Konstruktionsmuster (skr.: saskāra) ans Tageslicht des Bewusstseins zu fördern; so werden solide Erkenntnisse möglich, die allerdings niemals den Status einer absoluten, inhärenten Wahrheit erreichen werden. 

Ernst Bloch kommentierte denn auch - die Erkenntnisfähigkeiten des Menschen kontemplierend - die besonders im Angelsächsischen, von Naturwissenschaften und manchen Esoterikern gefeierte Hypothese über das vermeintliche Ende der Philosophie mit spitzen Worten: 

„Das ganze Gerede darüber, 
die Philosophie sei abgelaufen, ist
das Vergnügen eines unbegabten Knaben, 
der sich bei Hitzeferien von der Lösung und Stellung 
schwerer Aufgaben im Schulunterricht selbst dispensiert.“[26]

All jene, die dem Glauben eines biologisch materialistischen Mechanismus für die Tätigkeit des karmisch bedingten Geistesk (skr.: cittá; gr.: nous; engl.: mind; tib.: sem; chin.: hsin) anhängen, haben offenbar aufgegeben, eine schwierige Aufgabe zu meistern und ein unmittelbares Gewahrsein über ihren Geistk und damit über sich selbst zu erfahren. Fassen wir jedoch allen Mut zusammen, um den karmisch bedingten und im Werden befindlichen individuellen Geistk – cittá - trotz möglicher schmerzhafter Erkenntnisse über eine vergessene Vergangenheit zu untersuchen, finden wir sinnhafte Antworten über das Leben und das „je meinige Dasein“ – wie es Martin Heidegger sprachlich fasste. 

 

[1] Markus Gabriel, Der Sinn des Denkens, S. 44
[2] Martin Heidegger, Was heißt Denken? S. 148/149
[3] Robert B. Brandom, Making it explicit, Einleitung, S. 18 (eigene Übersetzung)
[4] Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 25
[5] Zitiert nach: Dalai-Lama, Science and Philosophy in the Indian Buddhist Classics, Vol. 2, The Mind, p. 51 (eigene Übersetzung)
[6] Abgeleitet aus dem Griechischen: syn = zusammen; tithenai = setzen
[7] Die Reden des Gotoma Buddhos übertragen von Karl Neumann in drei Bänden; Sammlung der Lehrreden Buddhas, die erstmalig in der indischen Sprache Pali in Steinstehlen ca. 200 Jahre nach Buddhas Tod aufgeschrieben wurden und als Palikanon bezeichnet werden
[8] Das Abhidharma-kosha-karika ist ein Text des indischen Philosophen Vasubandu (4. Jahrhundert), in dem er grundlegende Fragen der Wahrnehmung und Geistes gemäß Buddhas Unterweisungen erklärt
[9] Asaṇga, Abhidharma-samuccaya, S. 1-2 (eigene Übersetzung) 
[10] Asaṇga unterscheidet zwischen der Psyche (skr.: mano-dhatu) und dem Geist (skr.: cittá)
[11] Humberto Maturana, Biologie der Realität, S. 234
[12] Siehe Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Band 2; John Searle, Collective Intentions and Actions; Hans Bernhard Schmid u.a., Kollektive Intentionalität
[13] Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 493
[14] George Berkeley, Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, S. 26
[15] 1920 lebten etwa 1,65 Milliarden Menschen auf der Erde
[16] Asaṇga, Abhidharma-samuccaya, S. 21
[17] Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 13
[18] Der Husserl’sche Evidenzbegriff unterscheidet sich gravierend von dem, was heute in der Medizin dafür gehalten wird.
[19] Edmund Husserl, Ideen einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, S. 63 (Husserliana Band III/1, S.55)
[20] Edmund Husserl, Ideen einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, S. 65 (Husserliana Band III/1, S.57)
[21] Edmund Husserl, Die Konstitution einer geistigen Welt, S. 17 (Husserliana Band IV S. 186)
[22] Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 27
[23] Ludwig Wittgenstein, Logisch-philosophische Abhandlungen, S. 150
[24] Ernst Bloch in einem Gespräch mit Adelbert Reif in: Karola Bloch, Denken heißt Überschreiten, S. 21
[25] Ab und an verwende ich, auch provozierend, das generalisierende Femininum wie Naturwissenschaftlerinnen, in dem der Naturwissenschaftler enthalten ist, um eine Flexibilisierung der Sprache und Sensibilität für alle Geschlechter zu bewirken
[26] Ernst Bloch in einem Gespräch mit Adelbert Reif, in: Karola Bloch, Denken heißt Überschreiten, S. 20

 

 

 

 

 

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