Selbstreflexion über zentrale Lebensfragen mit Hilfe von Supervision und Systemaufstellungen

  • Freitag, 28 August 2015 00:00
Selbstreflexion über  zentrale Lebensfragen mit Hilfe von Supervision und Systemaufstellungen

von Eva Maria Hartings



Supervision ist ein sehr wirksames Instrument, um die selbstreflektorischen Fähigkeiten von Menschen zu fördern und damit ihre Lebenszufriedenheit und ihre Freude im Beruf und Alltag zu steigern. Eine wesentliche Rolle übernimmt Supervision, wenn sie Ratsuchenden hilft, vorsichtige Antworten auf die drängenden Fragen ihres Lebens zu finden. Die großen Lebensthemen wie Liebe, Sinnsuche, Erkenntnis oder Tod klopfen immer wieder an unsere Türen – egal, wie sehr wir uns manchmal blind oder taub stellen mögen. Sie lassen nicht nach und wollen betrachtet, anerkannt und immer wieder bearbeitet werden. Das ist ein lebenslanger Prozess, der zur Menschwerdung gehört.

In fast allen Supervisionen stehen Themen im Fokus, unter denen Menschen leiden: Sie vermissen beispielsweise einen Partner oder eine Partnerin, mit dem oder der sie in Liebe verbunden sind und gemeinsam durchs Leben gehen können. Oder sie leiden an einer kalten, lieblosen Kindheit, in der sie zwar funktionieren lernten, sich dafür aber bis zur Unkenntlichkeit anpassten, um die Anerkennung ihrer Eltern zu erlangen - die sie jedoch nie erhielten und auch nicht mehr bekommen werden, weil die Kindheit längst vorüber ist. Oftmals sind Perfektionismus, strenge Leistungsorientierung, negative Selbstbewertungen wie ewige Unzufriedenheit mit dem eigenen Leistungsniveau, dem Aussehen, dem gesellschaftlichen wie beruflichen Status die Folgen.

Sind Umstände und andere Schuld?

Die übliche Reaktionsweise auf erlebtes Leid ist die spontane Zuweisung von Schuld an andere oder die Lebensumstände: Meine Familie, mein Chef oder meine Chefin, mein Freund oder meine Freundin, das System oder die Umstände meiner Kindheit, mein Geborensein in dieser oder jener Stadt oder Region, das Ausgesetztsein einer bestimmten Schule oder Religion – es gibt so viele Schuldige, die wir suchen und denen wir die Schuld zuschreiben können.

Schauen wir aber genauer hin – was das Ziel jeder Supervisionspraxis ist – dann stellen wir fest: Selbst als ich einen neuen Chef bekam, blieb das Gefühl dasselbe; die neue Freundin hat mir auch kein größere Glück beschert, als die vorherige Beziehung; der Schulwechsel in der Kindheit hatte auch keine große Verbesserung gebracht. Wir erkennen: Es gibt keinen Schuldigen und keine Schuldige an diesem oder jenem Leid, weshalb die Frage nach der Schuld wohl falsch gestellt ist. Diese Einsicht führt uns schließlich zu der sinnhaften Frage:

Was hat mein aktuelles Leid mit mir zu tun?

In vielen Fällen stellt sich heraus, dass alte Traumata mit einem aktuellen Erleben verbunden sind: Schreckliche Ereignisse, die zu einem großen Teil während des zweiten Weltkrieges von den Eltern, Großeltern oder gar Urgroßeltern begangen oder von ihnen erlitten wurden, scheinen sich auf nachkommende Generationen zu übertragen. Manche hat dies schon zu der These verführt, geistige Aspekte, Emotionen wie Wut oder Traurigkeit würden vererbt.

Sabine Bode und andere haben in ihren Büchern über Kriegskinder und Kriegsenkel die phänomenologischen Zusammenhänge mit den Traumata der Eltern- und Großelterngeneration anschaulich geschildert. So kann es zum Beispiel sein, dass Menschen, die immer wieder in eine seltsame Traurigkeit gleiten, die sie sich nicht erklären können, an einem familiär verankerten Trauma leiden. Oft wissen Frauen und Männer nichts über diese Wurzeln, verharren leidend in ihrer Verwirrung, aus der sie alleine keinen Weg heraus finden.
Doch die phänomenologische Analyse alleine reicht nicht aus, weil sie den eigenen Geist nicht tiefgründig berührt und wieder nur eine Beschreibung eines Phänomenen darstellt. Fühlen wir dies, stellt sich die zweite wichtige Frage:

Was hat das aktuelle Leid mit meinem Geist zu tun?

Wenn ich beispielsweise immer wieder vor jedem oder jeder Vorgesetzten stramm stehe, schon in Schweiß ausbreche, wenn ich zu einer Besprechung mit ihr oder ihm gerufen werde, und dies unabhängig von der Person der oder des Vorgesetzten geschieht, dann wird klar, dass es in meinem Geist einen Aspekt gibt, den Erich Fromm als den »autoritären Charakter« bezeichnet hat. Aufgrund von spezifischen vergangenen Erlebnissen und Handlungen ist in meinem Geist eine Angst vor Autoritäten entstanden, wodurch ich das grundlegende Gefühl erlebe, dass ich weniger Wert, nicht gleichwertig, sondern grundsätzlich unterlegen bin. Der Verlust der »Gleichwertigkeit« ist eine tiefe Verletzung des Geistes jedes Menschen, die stets zu angetriebenen Handlungsweisen führt, wodurch die Wunde meist noch größer wird. Doch auch diese Erkenntnis reicht noch nicht aus, und es stellt sich die wichtige Frage:

Was kann ich aus dem Leid lernen?

Erst wenn ich mir diese Frage stellen kann, werde ich Veränderung erleben. Weil dann ist das Leid kein Feind mehr ist, sondern zu einem zwar schmerzhaften, aber verändernden Lernen wird. So kann ich aus der Angst vor Autoritäten lernen, dass ich von mir selbst das Gefühl habe, anderen nicht gleichwertig zu sein. Ja, ich kann mir immer wieder erklären, dass mir dies in der Kindheit und Jugend beigebracht wurde. Aber das ist nur ein Rückfall auf die phänomenologische Ebene. Wichtiger ist es, sich der eigenen, tatsächlichen »Gleichwertigkeit« bewusst zu werden und zu sagen: „Ich bin genauso viel wert wie jeder andere Mensch auf Erden."

Neben dem »autoritären Charakter« gibt es noch viele andere Wirkungsfaktoren des Geistes, die es zu erkunden gilt, weil sie mein aktuelles Leben prägen. Supervision und System- und Familienaufstellungen sind ideale Möglichkeiten solche »Geistesfaktoren« zu erkunden.

Der Dreiklang der Heilung

Jede Heilung basiert auf einer Diagnose. Supervision und System- und Familienaufstellungen sind Möglichkeiten, das eigene Leid zunächst einmal in aller Ruhe anzuschauen, so als würden wir neben uns stehen und auf uns selbst betrachten. Supervisionssitzungen oder Aufstellungstage sind geschützte Räume, in denen ich ohne Angst vor Enttarnung oder Entblößung meinen Geist bewertungslos anschauen und auch beweinen darf.

Die Draufsicht ermöglicht den zweiten Schritt der Analyse: Die Suche nach möglichen Ursachen und beispielsweise transgenerationalen Zusammenhänge zu erkennen. Hierbei ist es möglich, die Verknüpfung der Traumata der Eltern und Großeltern mit dem eigenen Unbehagen zu verstehen, Zusammenhänge zwischen der »Angst in den Bombennächten« mit dem eigenen »Perfektionismus« zwecks Überleben herzustellen.
Der dritte wichtige Schritt ist die Heilung, die darin besteht, sich selbst mit den Menschen, egal, ob verstorben oder noch lebend, in versöhnender Weise in heilenden Kontakt zu bringen, Ausgegrenztes und Abgespaltenes wieder zu integrieren und Getrenntes wieder zu verbinden. Um diesen Prozess zu ermöglichen sind fast immer mehrere Aufstellungen und eine Reihe von Supervisionssitzungen erforderlich.

Mitfühlende Professionalität als Grundlage guter Zusammenarbeit

In der Arbeitswelt sind - wie auch in sonstigen Lebensbereichen - Ausgrenzungen, Abwertung, Geringschätzung oder dauernde Konflikte an der Tagesordnung: Wenn Menschen gemeinsam arbeiten, treffen verschiedene Perspektiven und Auffassungen aufeinander. Das lässt sich nicht vermeiden, weil jede Person nur einen je individuellen Blick auf eine Arbeits- und Lebenssituation haben kann. Aus diesen unterschiedlichen Sichtweisen entstehen Spannungen und Reibungsflächen und oft genug gravierende Konflikte.

Die Art des Umgangs mit den verschiedenen Perspektiven und den sich daraus ergebenden Konflikten bedingen die Arbeitsfähigkeit und Qualität eines Teams. Anstatt die Konflikte zu ignorieren oder sich in Auseinandersetzungen aufzureiben – wodurch in der Regel ein hoher Krankenstand oder innere Kündigungen verursacht werden – besteht die intelligentere Strategie darin, Konflikte als Hinweise auf notwendige Veränderungen in der Zusammenarbeit zu begreifen.

Hierzu können Teams und ihre Leitungskräfte in der Supervision ihre Perspektiven reflektieren und nach kooperativen Lösungen suchen. Die Einzelnen wachsen in ihren Rollen, begreifen, dass sie gemeinsam Verantwortung tragen und finden neue Zugänge zu ihrem Engagement und Einsatz.

Supervision fördert die Potenziale Einzelner und Teams

In den Supervisionsprozessen werden vorhandene Stärken und Potenziale sichtbar, um sie wieder für das Leben – ob in Familien oder Unternehmen – nutzen zu können. Dies wiederum hilft, Problemfelder zu bearbeiten. Gemeinsam werden Situationen untersucht, die fehleranfällig oder konfliktreich sind. Lösungen liegen in der Regel nicht auf der Hand; sie werden prozesshaft erarbeitet. Zum Teil sind diese Auseinandersetzungen schmerzhaft für alle Beteiligten; in ehrlicher Weise werden die Anteile aller an der Konfliktlage benannt. Dies ist der einzige Weg, zu einander zu kommen, das Mitgefühl für die anderen zu spüren und selbst auch angenommen zu werden.

Dabei werden große Themen sichtbar: der Wunsch, perfekt zu sein, der Wunsch, anerkannt zu werden, die Sehnsucht, dazu zu gehören, der Mut, sich gegen autoritäre Strukturen oder auch nur einzelne Menschen zur Wehr zu setzen, die Verzweiflung, wenn uns dies alles nicht gelingt...

An dieser Stelle geht es um zweierlei: Einmal darum, nicht nachzulassen in unseren Bemühungen, und zum anderen, in großer Barmherzigkeit für sich selbst die Defizite und Besonderheiten unserer eigenen Person anzunehmen und mit ihnen in gütiger Milde umzugehen. Rainer Maria Rilke hat dies in einem Gedicht wunderbar beschrieben:

Man muss Geduld haben...
Mit dem Ungelösten im Herzen,
und versuchen,
die Fragen selber lieb zu haben,
wie verschlossene Stuben,
und wie Bücher,
die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind.

Es handelt sich darum,

alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt,
lebt man vielleicht allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages
in die Antworten hinein.


Genau da liegt die Qualität von Supervision: Keine kurzfristigen „Lösungen", die das vorläufige Durchhalten der betreffenden Person zum Ziel haben, stehen im Mittelpunkt, sondern Reflexionen über die innere Haltung zum Leben, zur Arbeit, zu Vorgesetzten sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und die daraus resultierenden Erkenntnisse über einen vielleicht anderen und angemesseneren Umgang mit sich und der Umwelt. Und: Alle sind Expertinnen und Experten ihres eigenen Lebens.

Mit dieser Haltung, die guten Supervisorinnen und Supervisoren eigen ist, eröffnet Supervision einen Raum, in dem fachliche, soziale und persönliche Kompetenz, Professionalität und Souveränität wachsen können. Dabei werden auch fachlich-berufliche, kulturelle und institutionell-organisatori¬sche Fragestellungen ins Blickfeld gerückt. Die Probleme beruflicher Interaktion und die konkreten Erlebnisse sind Ansatzpunkte eines sehr persönlichen Lernprozesses und der institutionellen Weiterentwicklung.

Für alle - und besonders für Leitungskräfte - steht in diesen Prozessen die Er-kenntnis im Vordergrund, dass jeder Mensch unter Demütigung, Gleichgültigkeit oder Geringschätzung ebenso leidet wie man selbst. Dies ermöglicht die Hinwendung zu einer wertschätzenden und mitfühlenden Lebenshaltung, was allen beteiligten Menschen zugute kommt.

Burn-out – Die große Erschöpfung

Meiner Erfahrung nach könnten bei rechtzeitigen Interventionsangeboten seitens einer Organisation zahlreiche Burn-out-Fälle vermieden werden. Rechtzeitiges Innehalten, kritische Reflexion der Ansprüche - eigener wie fremder - und geeignete Maßnahmen, die erkennen helfen, wie der Weg in die Erschöpfung stattfand und wodurch er gestoppt werden kann, sind notwendige Schritte.
In den seltensten Fällen ist eine Arbeitsüberlastung alleiniger Grund für das Gefühl einer beginnenden Dauererschöpfung. Meist kommt eine weitere, besondere Belastung hinzu, die nicht einfach abgestellt werden kann. Das kann die Rolle im Team sein, die Qualität der Arbeitsbeziehung zu Vorgesetzten, dauerhafte inhaltliche Unter- oder Überforderungen oder private Lebenssituationen, für die keine Lösung gesehen werden. In diesen Fällen ist es nötig, das eigene Leben aus einer Vogelperspektive zu betrachten, um mögliche und nötige Schritte heraus aus diesem Teufelskreis erkennen zu können.

In der Regel sind Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter von einem drohenden Burn-out betroffen, die sehr hohe Ansprüche an sich selbst stellen – sowohl in beruflicher als auch in privater Hinsicht. Perfektionismus in allen Bereichen des Lebens überfordert jeden und jede irgendwann. Sie leiden extrem an der Diskrepanz zwischen Realität und Idealvorstellung. Sie verzeihen sich keine Schwäche, halten sich für schlechter, weniger intelligent, weniger effektiv oder eloquent. Nach einer Zeit erleben sie sich als Versager auf ganzer Linie. Gehen sie in die „Stilllegung", und werden sie gleichgültig allen Anforderungen des Alltags gegenüber, ist es für die Prophylaxe zu spät. Die Erschöpfungsdepression nimmt ihren Lauf.

Vor diesem Zustand können Organisationen – Verwaltungen, Unternehmen und andere - intervenieren: Durch geeignete Supervision zum richtigen Zeitpunkt, in der die Lebenssituation beleuchtet wird und die Ursachen erforscht werden dürfen. „Lieben wir die Fragen, wachsen wir in Antworten hinein." Deshalb sind Fragen der richtige Beginn:
Wie beispielsweise kam es zum Perfektionismus?

Welche Verwechslungen haben sich eingeschlichen?
Gab es Liebe nur gegen Leistung?
Welche Rolle spielt Anerkennung im Leben?
Gibt es eine angemessene Selbstliebe und Barmherzigkeit in der Selbstbewertung?
Wieso gibt es einen Zwang zur ständigen Bewertung?

Diese und andere Fragen sind Wegweiser in der supervisorischen Arbeit, mit deren Hilfe ein gutes Leben und Arbeiten wieder möglich wird.

 Eva Hartings 

Eva Maria Hartings (Jahrgang 1957), Supervisorin nach DGSv-Standard sowie System- und Familienaufstellerin.
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weitere Informationen unter: www.supervision-hartings.de

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