Quantenmechanische Annäherung an das Leer-sein von Geist und Materie

  • Mittwoch, 03 Dezember 2014 00:00
(Foto: Wiebke Köhn) (Foto: Wiebke Köhn)

von Hans Korfmacher

Der Dalai Lama merkte im August 2014 bei seinem Besuch in Hamburg an: „Meiner Erfahrung nach, verstehen die theoretischen Physiker der Quantenmechanik das Leer-sein [1] aller Phänomene viel leichter; wohl weil sie dies in den Strukturen der Materie erkennen.“ Denken wir über die quantenmechanischen Ideen nach, kommen wir schneller zu den tiefen buddhistischen Weisheiten. Der vorliegende Essay ist die Fortsetzung des Kapitels Das neue quantenmechanische Weltbild aus dem Buch Lebenskreise, Band 1 – Kampf oder Kooperation, und den den Zusammenhang zwischen den quantenmechanischen Gedanken sowie dem Leer-sein von Materie und Geist im buddhistischen Sinne her, der eine überragende Bedeutung für das Verständnis des Buddhismus hat und Bedingung dafür ist, dass wir Glück erleben können.

Galilei (1564 – 1642) hat mit dem heliozentrischen Weltbild den Bezugspunkt der Menschheit von der Erde ins Weltall verlagert, wodurch eine neue Distanz zwischen Menschheit und der sie umgebenden Natur entsteht: Die Naturbeobachtenden der Moderne sehen sich seitdem - ganz anders als die Menschen der Naturvölker zuvor - nicht mehr als Teil der Natur. Es scheint, als würden Humboldt, Darwin und viele andere Naturforschenden über Meere und Wälder nur noch schweben. Sie versuchen bewusst in Distanz zu den beobachteten Objekten zu sein und verlieren damit die ursprüngliche Wahrnehmung des Lebendigen. So beginnt der Prozess, den Erich Fromm (1900 - 1980) später als „Entfremdung" bezeichnen sollte.

Mit der Verlegung des Bezugspunktes von der Erde ins Weltall verlieren wir Sicherheit. „Die klassische Physik beruht auf der Annahme - oder sollten wir sagen Illusion - dass wir die Welt beschreiben können, ohne von uns selbst zu sprechen. Wir "wissen" beispielsweise, dass es die Stadt London gibt, unabhängig davon, ob wir sie sehen oder nicht." [2] Aber über Phänomene zu sprechen und sich selbst dabei außen vor zu lassen, erzeugt das Gefühl, haltlos im Raum zu schweben, sich nicht mehr verorten zu können. Das jedoch ist psychisch kaum auszuhalten und erfordert Kompensation. Deshalb suchen wir Halt, um uns an irgendetwas in einem scheinbar unendlichen Universum orientieren zu können. Der Blick ins Weltall macht Angst. Festhalten-wollen ist daher der bestimmende Modus jeder durchschnittlichen Wahrnehmung. Sie soll uns mitteilen, dass ein Baum ein Baum, ein Gerät ein Gerät, ein Mensch ein Mensch ist - und ich ICH bin. Wir hegen den Wunsch, dass äußere Phänomene, wie auch wir selbst, sicher sein mögen, aus sich selbst heraus, eigenständig und substanziell existierend, damit wir uns auf irgendetwas verlassen und daran festhalten können.

Die Autonomiebestrebungen der Individuen des 17. Jahrhunderts, bis hin zum übersteigerten Individualismus, und der seither immer weiter zerteilend-wissenschaftliche Blick sind zwei Seiten derselben Medaille. Letztlich suchen wir in jeder Naturbeobachtung eine Bestätigung des Wunsches, dass ICH möge unabhängig sein. Denn wenn der Baum nicht unabhängig ist, bin auch ICH nicht unabhängig. Wir sehnen uns hinein in das schöne Märchen der aus sich selbst heraus bestehenden Dinge auf der Basis des einfachen, mechanistischen Weltbildes, das uns die Wissenschaft seit Galilei erzählt. Materie ist in dieser Traumsequenz eine aus sich selbst heraus existierende Entität [3], zusammengesetzt aus kleinsten, unteilbaren Bausteinen - den Atomen.

Materie ist nicht Materie

„Man kann sagen, dass die klassische Physik eben die Idealisierung der Welt darstellt, in der wir über die Welt oder ihre Teile sprechen, ohne dabei auf uns selbst Bezug zu nehmen." [4] Je weiter die physikalischen Untersuchungen fortschreiten, desto kleiner werden die Einheiten, die in naiver Weise als „eigenständig" gewünscht werden. Naiv deshalb, weil zumindest seit Bohr, Einstein, Heisenberg und Schrödinger, also seit gut 100 Jahren, dieses Märchen als solches enttarnt ist.

Die Quantenmechanik hat die absolute Existenz der Materie als Fata Morgana entlarvt. Hans-Peter Dürr, viele Jahre Direktor des Max-Planck-Institutes für Physik, Schüler Heisenbergs und Schrödingers, bringt dies mit einfachen Worten auf den Punkt: „Materie ist im Grunde nicht Materie. Deshalb habe ich eingangs erwähnt: Ich habe fünfzig Jahre über Materie gearbeitet, die es gar nicht gibt. Wir können uns das nicht vorstellen.... Es gibt nur Beziehungsstrukturen, es gibt keine Objekte. Die Frage, was ist und was existiert, kann so nicht mehr gestellt werden." [5]

Der heute wohl berühmteste deutsche Quantenphysiker bekennt, dass die Materie, über die er fünfzig Jahre lang geforscht hat, in Wirklichkeit nicht existiert. Vielmehr existieren nur „Beziehungsstrukturen" zwischen Dingen, welche ebenfalls nicht aus sich heraus existent sind. „Wenn wir anfangen, über etwas zu reden, dann fangen wir gewöhnlich damit an zu fragen, was ist, was existiert. Das ist das Erste, was wir fragen. Wenn diese Frage keinen Sinn mehr hat, dann bleibt uns auch die Sprache weg. Es bleiben nur die Fragen, was passiert und was bindet - und nicht, was welche Teile wie verbindet. Das ist für uns ganz ungewohnt." [6]

Im Wandel der Weltbilder

Um diese Aussagen zu verstehen, ist eine Kenntnis über Entwicklung und Bedeutung von Weltbildern hilfreich. Jede menschliche Wahrnehmung basiert auf Weltbildern, die Grundverständnisse formulieren, auf die sich eine Gruppe von Menschen, manchmal sogar die ganze Menschheit, verständigt. Paul Feyerabend analysiert das erste, uns schriftlich überlieferte Weltbild, wie folgt: „Die älteste uns bekannte Kosmologie ist die der archaischen Griechen [ca. 2000 v. Chr.], wie sie in Homers [7] Texten beschrieben wird. Diese Kosmologie betrachtet die Dinge als eine Aneinanderreihung von Einzelteilen, weshalb beispielsweise der Mensch nicht als Ganzes, sondern nur als Ansammlung von Einzelteilen beschrieben wird." [8] In der archaischen Welt existierte kein ICH, denn ICH zu denken bedeutet, sich als Ganzes, als etwas Unteilbares zu denken. Das Individuum setzte sich im Bild der archaischen Menschen aus Einzelteilen zusammen. „Zum Beispiel gibt es keinen Ausdruck für den menschlichen Körper als Ganzes. "Soma" ist die Leiche; man spricht von Gliedern, wo man heute von Körper spricht." [9] 

Das Leben und die eigene Existenz wurden damals wohl als WIR wahrgenommen, welches den Horizont der jeweilig individuellen Welt erfasste - die Mitmenschen genauso wie die Tiere und Pflanzen, die Erde, das Wasser, die Luft. Naturvölker sprechen daher von der „Mutter Erde" und den vier Elementen - Erde, Wasser, Feuer, Wind - die alles Lebende ermöglichen.

Das ändert sich um 500 v. Chr. mit der Philosophie der Vorsokratiker, die uns durch die Fragmente von Heraklit (540 - 480 v. Chr.) und Demokrit (460 - 380 v. Chr.) zugänglich ist. Heraklit postuliert „das allgegenwärtige Wesen des Logos" als ein „Eins-Sein der Gegensätze." Für ihn ist der „Logos das Wesen der Welt und der Seele." [10] Demokrit hingegen folgert aus seinen Überlegungen: „Nur scheinbar hat ein Ding eine Farbe, nur scheinbar ist es süß oder bitter; in Wirklichkeit gibt es nur Atome im leeren Raum." Demokrit wird damit Begründer des Atomismus, die „Atome im leeren Raum" sind für ihn Vision, die der nicht-materiellen Sichtweise der heutigen Quantenmechanik sehr nahe kommt.

Mit Sokrates, Platon und Aristoteles entsteht die antike griechische Kosmologie. Das Denken über den Logos führt zur Annahme eines Geistes (griechisch: nous), dessen Haupttätigkeit Platon als Denken bezeichnet. Die im Mittelalter besonders durch Augustinus und später durch Thomas von Aquin betriebene Fokussierung des Geistes auf den Verstand (lateinisch: ratio) führt allerdings zur falschen Gleichsetzung von Logos mit Logik, was Heraklit gewiss genauso ablehnen würde, wie Platon der Gleichsetzung von Geist und Verstand widersprach. Gleichzeitig breitet sich Demokrits Idee der Atome, die alles Existierende begründen, rasant aus. So beginnt der bis heute andauernde Disput: Was dominiert - Geist oder Materie ? 

Während Platon als Idealist die Bedeutung der Sinneseindrücke und des Geistes hervorhebt, favorisiert Aristoteles die materiell ausgerichtete Denkschule. Für ihn ist die „Materie Stoff eines bestimmten Dings, das eine Form aufweist". Indem diese „Materie in neuer Weise strukturiert wird, entsteht ein neues Einzelding." Seine Kosmologie wird später vom aufkommenden Christentum weitgehend übernommen. Thomas v. Aquin verstärkt diese Denkschule als Prediger des Verstandes. Ihm dient das verstandesmäßige ICH als Objekt der Gestaltungskraft Gottes: Gäbe es kein unabhängiges ICH, gäbe es keinen Gott, lautet der Kern seiner These. Demnach ist die Frage erlaubt, ob theistische Philosophen Gott erschufen, um den Glauben an ein ICH zu stärken?

Die christliche Philosophie bleibt im Schatten der antiken griechischen Kosmologie, weil sie sich auf Gottesbeweise beschränkt, und wird erst um 1600 durch die neue Kosmologie der klassischen Physik abgelöst - begründet durch Kopernikus, Kepler und Galilei im 16. und 17. Jahrhundert. Newton, Maxwell und andere entwickeln das mechanistische Weltbild im 19. Jahrhundert weiter, in dem sich die Objekte allein auf kreisförmigen Bahnen bewegen. Bewegung ist das Merkmal dieser Weltidee. Sie wird als Wirkung von Kräften - wie der Gravitationskraft, der Corioliskraft, der elektromagnetischen Kräfte - verstanden, die auf Objekte einwirken. Dies formuliert zwar Beziehungen zwischen den sich bewegenden Objekten und den Ursachen der Bewegungen, die aber in der frühen Mechanik kaum verstanden werden. Später erst vergleichen Physiker die Bewegungen von Atomen, Elektronen, Neutronen, Protonen mit den Bewegungen der Planeten. Doch die Bausteine der Materie bleiben in diesem Weltbild auch weiterhin aus sich selbst heraus existierende Objekte.

Mit den Theorien von Einstein, Bohr, Schrödinger, Heisenberg und anderen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entsteht eine neue relativistische Kosmologie. „Eine interessante Entwicklung tritt ein, wenn die beseitigte Ontologie [12] umfassend ist, d. h. wenn ihre Gegenstände, als in jedem Vorgang eines bestimmten Gebietes vorhanden, vorgestellt werden. Die klassische Physik ist ein solches Beispiel. Sie hat eine umfassende Terminologie zur Beschreibung gewisser, ganz grundlegender Eigenschaften physikalischer Gegenstände entwickelt wie Form, Masse, Volumen, Zeitabschnitte usw. Das mit dieser Terminologie verbundene Begriffssystem setzt wenigstens in einer seiner zahlreichen Deutungen voraus, dass die Eigenschaften den Gegenständen innewohnen und sich nur als Ergebnis unmittelbarer physikalischer Einwirkungen verändern. Das ist eines der universellen Prinzipien der klassischen Physik.

Nach der Relativitätstheorie,
mindestens in der von Einstein und Bohr anerkannten Deutung,
gibt es aber keine den Gegenständen selbst zukommenden Eigenschaften der angeführten Art,
sondern Form, Masse usw. sind Beziehungen zwischen physikalischen Koordinatensystemen,
die sich ohne physikalische Einwirkungen ändern können,
wenn man ein Koordinatensystem durch ein anderes ersetzt.

Das so entstehende Begriffssystem leugnet nicht einfach das Bestehen der klassischen Sachverhalte. Das könnte es gar nicht, denn es gestattet nicht einmal die Formulierung solcher Aussagen. Sie hat keine einzige Aussage mit ihrem Vorgänger gemeinsam." [13]

Das quantenmechanische Weltbild

Was ist also anders in dem neuen relativistischen Weltbild der Quantenmechanik? Ein Gedankenexperiment mag helfen, dies zu verstehen:

i. Vor mir liegt eine Holzplatte, die ich sehen, fühlen, riechen, tasten und sogar hören kann, wenn ich darauf klopfe; die ich also mit meinen fünf Sinnen wahrnehmen kann. Ich sehe etwas Festes, Undurchsichtiges mit einem Eigengeruch nach Holz und spezifischem Klang. Die Wahrnehmung signalisiert: Hier existiert ein Ding mit klaren Eigenschaften, das so stabil ist, dass ich einen anderen Gegenstand darauf stellen kann. Es ist abgegrenzt, zeigt Profil. Ich vertraue meiner Wahrnehmung und glaube, eine endgültige Wahrheit über das Holz erlangt zu haben.

ii. Benutze ich ein anderes Wahrnehmungsinstrument als mein Auge, beispielsweise ein Mikroskop, wird sichtbar, dass die Holzplatte aus Holzfasern besteht, die eng aneinander liegen. Darin befinden sich weitere Materialien, die wie Klebstoff diese Fasern zusammen halten. Mit jeder weiteren Vergrößerungsstufe des Mikroskops werden Hohlräume zwischen den Fasern sichtbar. Wären meine Finger klein genug, könnte ich in die Hohlräume hineingreifen. Das Mikroskop als Instrument der Wahrnehmung lässt Holz geschmeidig wie Stoff erscheinen.

iii. Benützte ich ein Instrument, das noch kleinere Einheiten erkennen kann, würde ich Strukturen sehen, die in der Chemie als Moleküle bezeichnet werden. Nach diesen Modellen bestehen die Moleküle des Holzes aus Sechsecken, die in langen Ketten aneinander gereiht sind. Die Ketten sind beweglich, wie auch die einzelnen Sechsecke in sich. Das Holz verliert weiter an Stabilität. Könnte ich die Welt der Moleküle sehen, wäre Holz einer zähen Flüssigkeit sehr ähnlich.

iv. Auf der nächsten Verkleinerungsebene werden Einheiten sichtbar, die die Physik als Atome bezeichnet. In den naturwissenschaftlichen Modellen sind Atome die Bausteine der Moleküle. Sie sind Raumgebilde, die locker miteinander verbunden sind, hin- und herschwingen, nie an einem Orte bleiben und in dauernder Bewegung sind. Mit dieser Wahrnehmung würde sich Holz wie ein sehr dünnflüssiges Medium oder Gas verhalten.

v. Auf der weiteren Reise in den Mikrokosmos würde ich nun eine riesige Überraschung erleben. Nach den Atommodellen der relativistischen Physik löst sich das Atom in Teilchen auf, die nur als mathematische Aufenthaltswahrscheinlichkeiten beschreibbar sind. Könnten wir diese Orte - im Bild der klassischen, mechanistischen Physik - fixieren, würden sich um einen winzigen Kern noch kleinere Elektronen bewegen. Hätte der Atomkern beispielsweise die Größe eines Fußballs, würden sich in etwa 200 Kilometern Entfernung Elektronen in der Größe eines Sandkorns mit Lichtgeschwindigkeit auf einer Kreisbahn um den Kern bewegen. Zwischen Atomkern und Elektron jedoch scheint nur leerer Raum, so wie Demokrit es in seinen Visionen beschrieb.

Auf dieser Verkleinerungsstufe wäre Holz dem Universum ähnlich: In einem fast leeren Raum bewegten sich atomare Bausteine weit voneinander entfernt. Doch anstatt dieser Teilchen habhaft werden zu können, sind sie nur als „Wahrscheinlichkeitsfunktion" mit „Aussagen über Wahrscheinlichkeiten" [14] beschreibbar. Und vor allem: Sie existieren nicht aus sich heraus, sondern nur aufgrund ihrer Beziehung zueinander. Die vermeintlichen Teilchen hören auf, eigenständige Dinge zu sein.

Selbst ihr Gewicht ist nicht mehr Aspekt ihrer Existenz, sonders Ergebnis ihrer Beziehungen zueinander. Keinem der atomaren Teilchen kann eine Masse zugeordnet werden. Masse und damit Materie ist nicht auffindbar. Der Physiker Higgs beschreibt in seinen mathematischen Modellen zur Feldtheorie in den 1960er Jahren die Masse daher als eine Wirkung der Bewegung von zwei Kraftfeldern zueinander. Die sich aus der Bewegung der Kraftfelder ergebenden Beziehungsenergien manifestieren sich in Beziehungsstrukturen, denen wir Namen wie Atomkern oder Elektron geben. Sie sind keine Dinge, Gegenstände oder Partikel, sondern lediglich zeitweilige Energiezustände, die nur noch mit mathematischen Konstruktionen als Hilfsmittel beschreibar sind. Die Materie Holz hört auf dieser Betrachtungsebene auf ein Ding zu sein, das aus sich heraus existiert.

Das gewöhnliche, als fest wahrnehmbare Holz, ist in seiner feinsten Struktur leerer Raum, in dem sich in riesigen Abständen etwas in einem wie auch immer gearteten Energiezustand auf wahrscheinlichen Bewegungsflächen zueinander bewegt. Uns fehlt die Sprache, wie Hans-Peter Dürr sagt, um dies zu beschreiben, weil wir mit der Sprache und ihren Begriffen immer im Horizont eines Dings - der Welt der klassischen Physik - bleiben.

Wir können uns fragen, warum wir dieses physikalische Leer-sein in unserem gewöhnlichen Leben nicht wahrnehmen können? Der Grund ist zunächst unsere begrenzte Wahrnehmungsfähigkeit. Wir haben nicht die Sensoren, um den leeren Raum zwischen den Atomen wahrzunehmen. Könnten unsere Augen beispielsweise Röntgenstrahlung sensorisch nutzen, würde uns die Welt nicht in Farben erscheinen. Wir würden durch Menschen hindurchschauen und nur ganz wenige Umrisse erkennen, wie etwa das Knochengerüst, das nicht von den Röntgenstrahlen durchleuchtet wird. Hätten wir Sensoren, die den leeren Raum zwischen den Partikeln wahrnehmen könnten, wäre die Welt vollständig leer - wie das Universum. Eine öde und vermutlich Angst erzeugende Vorstellung.

Um dies scheinbar noch zu verkomplizieren weist Heisenberg darauf hin, dass dieser leere Raum des Mikrokosmos prinzipiell nicht messbar ist. Denn jedes Lichtquant, das zur Beobachtung notwendig ist, verändert bereits im Moment der Beobachtung das zu beobachtende Objekt. „Diese Unsicherheiten kann man objektiv nennen, insofern sie ja die Folge davon sind, dass wir das Experiment in den Begriffen der klassischen Physik beschreiben. Man kann sie auch subjektiv nennen, insofern sie unsere unvollständige Kenntnis der Welt bezeichnen." [15] Heisenberg betont, dass die Quantenmechanik nur insofern die Welt objektiv beschreiben kann, wie sie sich auf die Begriffe der klassischen Physik bezieht. Die jedoch bilden weniger eine Realität ab, sondern sind vielmehr Erfindungen und Vereinbarungen zwischen Menschen zwecks Verständigung. In dieser Hinsicht bestätigt Heisenberg, dass eine objektive Welt nicht existiert.

Beobachtungen sind Interpretationen des Äußeren

Einstein weist in einem Gespräch mit Heisenberg 1926 auf einen weiteren Aspekt des Wissen-Schaffens hin: „Vom prinzipiellen Standpunkt aus betrachtet ist es ganz falsch, eine Theorie nur auf beobachtbare Größen gründen zu wollen. Denn es ist ja in Wirklichkeit ganz umgekehrt. Erst die Theorie entscheidet darüber, was man beobachten kann." Vergegenwärtigen wir uns für einen kurzen Moment diesen entscheidenden Satz:

„Erst die Theorie entscheidet darüber,
was man beobachten kann."

Die in unserem Geist vorhandenen Vorstellungen und Ideen bestimmen und ermöglichen eine Interpretation von Sinneseindrücken. Einstein greift damit auf ein altes Sokrates-Argument zurück, der gesagt hat: „Um zu wissen, was Gerechtigkeit ist, muss man wissen, was Wissen ist; und um dies zu wissen, muss man einen ungeprüften Vorbegriff von Wissen haben. Daher kann man gar nicht zu klären versuchen, was man weiß oder was man nicht weiß. Weiß man, so bedarf es keiner Untersuchung; weiß man nicht, so weiß man nicht einmal, wonach man suchen soll." [16] 

Einstein fährt in diesem Sinne im Gespräch mit Heisenberg fort: „Die Beobachtung ist ja ein sehr komplexer Prozess. Der Vorgang, der beobachtet werden soll, ruft irgendwelche Geschehnisse in unserem Messapparat hervor. Als Folge davon laufen in diesem Apparat dann weitere Vorgänge ab, die schließlich auf Umwegen den sinnlichen Eindruck und die Fixierung des Ergebnisses in unserem Bewusstsein bewirken. Auf diesem langen Weg müssen wir wissen, wie die Natur funktioniert, wenn wir behaupten wollen, dass wir etwas beobachtet haben. Nur die Theorie erlaubt uns, aus dem sinnlichen Eindruck auf den zugrunde liegenden Vorgang zu schließen." [17]

Sokrates‘ und Einsteins Gedanken sind wesentlich für das Verständnis jeder Wahrnehmung: Bei jeder Beobachtung gelangen „Geschehnisse" wie Licht, bewegte Luft (Töne), Gerüche, Wärme oder Kälte direkt oder über Messapparate zu unseren Sinnesorganen. Dadurch erleben wir zunächst die „Erscheinungswelt" der Sinneseindrücke, welche erst durch eine Interpretation der Wahrnehmung zur „Bühne der Lebenden" wird, wie die griechischen Philosophen dies zutreffend bezeichnen. Doch:

„Erscheinen heißt stets: anderen so und so zu scheinen,
und dieses Scheinen verändert sich mit dem Standpunkt und der Perspektive der Schauenden.
Mit anderen Worten, jedes Erscheinende erhält kraft seiner Erscheinungshaftigkeit
eine Art Schleier, der es durchaus verbergen oder entstellen kann." [18]

Mit Hilfe von Weltbildern lernen wir also, die Erscheinungswelt der Sinne – die Phänomene - in einer bestimmten Art und Weise zu interpretieren. Wenn ich Licht sehe, kann ich dies als eine angenehme Sicherheit oder Wärme wahrnehmen oder ich kann eine Gefahr erkennen wie bei einer Explosion. Die ungeprüften Vorstellungen oder Theorien in meinem Geist sind Voraussetzungen für jeweilige Interpretationen. Diese Interpretationsmuster wiederum basieren auf vergangenen Wahrnehmungen und daraus entwickelten Erfahrungen, die seit vielen hunderttausend Jahren teils bewusst, teils intuitiv in meinem Geist und dem der Menschheit abgespeichert werden.

Einsteins Beschreibung des Wissenschaftsprozesses stellt die Wissenschaftstheorie endgültig vom positivistischen Kopf auf die relativistischen Füße. Nicht die Beobachtung selbst erlaubt das Aufstellen von Theorien. Vielmehr bedarf es eines Weltbildes - eines komplexen Systems aus vielen kompatiblen Theorien - um etwas beobachten zu können. Dieser Strategie folgte auch Galilei, indem er eine neue Weltsicht mit der Kraft seiner Worte als Ausdruck seiner Ideen erschuf - ganz ohne Daten. Er nahm das heliozentrische Weltbild als gegeben an und beschrieb von diesem aus alle ihm bekannten Phänomene. Dementsprechend gilt: Stelle ich mich auf den Standpunkt einer Atomtheorie mit Atomen und Elektronen als Partikel, dann werde ich Atome und Elektronen beobachten. Stelle ich mich auf den Standpunkt einer Theorie, die die Materie ohne Teilchen beschreibt, werde ich Entsprechendes beobachten. Das, was wir im „Schauspiel des Lebens" beobachten, ist abhängig von den eigenen geistigen Vorstellungen, die wiederum selbst das Ergebnis vorheriger Interpretationen sind. Insofern sind unsere Ideen die besten Beweise für die Existenz eines nicht materiellen Geistes.

Der größte Teil unserer Vorstellungen entsteht aus Konventionen, die wir beispielsweise als Baby durch Kommunikation mit unseren Eltern lernen: Essen und Trinken tun gut, genauso Schmusen oder Singen. Später lernen wir viele tausend Worte und Begriffe als Verabredungen über Bedeutungen. So wird ein kugeliges Ding mit dem Begriff Ball ausgestattet. Weitere Vorstellungen ergeben sich aufgrund von Handlungen aller Art. Jede Handlung hinterlässt im Geist eine neue Datenspur, die wiederum den weiteren Blick auf die Welt prägt. Denn „wir sind von dieser Welt und nicht bloß in dieser Welt; wir sind selbst Erscheinungen, da wir ankommen und fortgehen, erscheinen und verschwinden." [19]

Das Prinzip der Diskontinuität

Vielen erscheint diese Sichtweise auf Erkenntnisprozesse spekulativ. Sie wollen etwas handfestes und sie suchen klare Antworten auf die Frage: Was geschieht denn wirklich in einem Atom? Heisenberg antwortet lapidar: „Was man den Beobachtungen entnimmt, ist eine Wahrscheinlichkeitsfunktion, also ein mathematischer Ausdruck, der Aussagen über Möglichkeiten oder Tendenzen mit Aussagen über unsere Kenntnis von Tatsachen ermöglicht.

Daher können wir das Ergebnis einer Beobachtung nicht objektivieren.
Wir können nicht beschreiben,
was zwischen dieser Beobachtung und der nächsten passiert." [20]

Das verblüfft uns noch mehr: Es existiert keine Eins-zu-Eins-Beziehung zwischen Ursache und Wirkung. Wir können zwar eine Ursache beobachten und eine Weile später auch eine Wirkung. Der zeitliche Abstand zwischen beiden Erscheinungen mag Millisekunden oder Jahrhunderte betragen. Doch in jedem Fall ist es unmöglich präzise anzugeben, was zwischen den beiden Momenten von Ursache und Wirkung tatsächlich geschieht. Das ist eine Konsequenz aus der von Heisenberg formulierten Unschärferelation: Um jeden Moment zwischen einer Ursache und einer Wirkung beschreiben zu können, müssten wir zu jedem Zeitpunkt die Veränderung - physikalisch den Impuls - und den Ort eines Phänomens exakt angeben können. Das aber, so Heisenberg, ist grundsätzlich unmöglich.

Das "Prinzip der Diskontinuität" ist eine wesentliche Erkenntnis der Quantenmechanik, das insofern nicht ganz neu ist, da der indische Philosoph Nagarjuna bereits im 2. Jahrhundert n. Chr. den gleichen Gedanke mit dem berühmten ersten Satz aus seinen Versen zum Mittleren Weg formuliert:

„Niemals und nirgends
entsteht eine Erscheinung
aus sich heraus, aus anderem,
aus beidem oder ohne Ursache." [21]

Nach Nagarjunas Auffassung entstehen Erscheinungen weder aus Ursachen noch ohne Ursachen. Mit Erscheinung meint er alles Wahrnehmbare, sei es ein materieller Gegenstand oder ein Lebewesen, aber auch einen Geisteszustand oder ein Wissensobjekt. Seine zunächst radikale Ablehnung jeder Ursache und jedes Entstehen im ersten Teil dieses Satzes hat schon früh Gegner aus anderen buddhistischen Schulen auf den Plan gerufen und oft zur Fehlinterpretation durch spätere Philosophen, vor allem im Westen, geführt. Sie haben Nagarjuna statisches oder sogar nihilistisches Denken vorgeworfen, weil er mit diesen Formulierungen die Existenz von Ursachen negiere.

Doch diesem Vorwurf begegnet Nagarjuna unmittelbar durch die einfache Aussage, dass Erscheinungen nicht ohne Ursachen entstehen können. Aber wie sollen Erscheinungen aus Ursachen und dennoch ohne Ursachen entstehen? In diesem Widerspruch liegt die besondere Qualität seines Denkens. Nagarjuna will uns wegführen von der üblichen einfachen Denkweise, die immer nur vom Entweder-Oder, Schwarz-oder-Weiß ausgeht: Entweder entsteht etwas aus einer Ursache oder etwas entsteht nicht aus einer Ursache. Stattdessen möchte er uns neue, unbegangene Denkwege zeigen, damit wir das „abhängige Entstehen", die relativistische Vernetzung alles Existierenden verstehen lernen.

Oft wird ein Widerspruch zwischen klassischer Physik und Quantenmechanik postuliert, als würde der unsichtbare Mikrokosmos sich anders verhalten als der sichtbare Makrokosmos. Doch dies ist nur ein verzweifelter Versuch, die angebliche Beständigkeit und Unabhängigkeit der Dinge zu bewahren. Schauen wir uns an, was geschieht, wenn ich einen Ball trete und dieser im nächsten Moment durch die Luft fliegt: Eine Ursache bewirkt eine Wirkung; einfache klassische Physik. Zerlegen wir diesen Prozess jedoch in kleinste Einheiten, dann tritt ab einem bestimmten Verkleinerungsgrad des Raumes und der Zeit die von Heisenberg formulierte Unschärfe ein: Ort und Impuls [22] der Bewegung des Balles können im absoluten Sinne nicht exakt beschrieben werden. Wir können in absolutem Sinne nicht angeben, wo sich ein Teilchen zu welchem Zeitpunkt befindet. Eine vollständige Beschreibung der Beziehung zwischen Ursache und Wirkung ist unmöglich. Es existiert weder eine direkte Ursache, noch entsteht die Bewegung des Balls ohne Ursache - ganz im Sinne Nagarjunas.
Das ist eine ungewohnte Sicht auf die Welt. Schnell sind wir geneigt, solche Gedanken als Unsinn oder Spekulation abzustempeln, weshalb seit Nagarjuna weitere 1800 Jahre erforderlich waren, bis die Naturwissenschaft eine relativistische Kosmologie beschreiben konnte.

Trotzdem agiert die publizierte westliche Wissenschaft leider nur auf den Grundlagen des mechanistischen Weltbildes des 17. Jahrhunderts. Nachzulesen ist das in Lehrbüchern, in denen jungen Menschen das Märchen vom autonom existierenden Atom erzählt wird. Aufrechterhalten wird das mechanistische, dinghafte Weltbild, weil es ökonomisch erfolgreich ist. Niemand soll die Frage nach der Kosmologie und den Interpretationen von Welt stellen. Stattdessen sollen die Menschen an die Erfolge der wunderbaren instrumentellen Wissenschaft glauben. Kaum jemand spricht darüber, dass in einer chemischen Reaktion, die zur Produktion eines bestimmten, nützlichen Stoffes erforderlich ist, sich nur 15-20 Prozent der Reaktionspartner so verhalten, dass das gewünschte Produkt entsteht, während 80-85 Prozent der Reaktion unbekannt ist und nicht nutzbare Nebenprodukte liefert, die meist als Abfälle beseitigt werden. Kaum jemand darüber spricht, dass die Ingenieurwissenschaften Schamanen gleich nur deshalb so erfolgreich sind, weil sie ad-hoc-Annahmen und Korrekturfaktoren in ihre Formeln hinein zaubern, die erst die Nutzung der Formeln für den Bau einer Brücke, eines Autos oder eines Computers ermöglichen. Die westliche Wissenschaft hat aufgehört wissenschaftlich zu denken, seit das philosophische Grundgerüst für den naiven positivistischen Glauben an den wissenschaftlichen Materialismus er-richtet worden ist.

Wir befinden uns insofern in einer Phase des Umbruchs, weg von einer alten Kosmologie, die die Materie als Krönung des Wissens und des Lebens betrachtet, hin zu einer neuen Kosmologie, für die Materie nur Ausdruck einer Beziehungsstruktur ist. Derartige Umbrüche finden in der Menschheitsgeschichte mit großer Regelmäßigkeit statt. Der aktuelle Umbruch wird die Menschheit vermutlich noch mehrere Jahrhunderte beschäftigen, weil die Trägheit des Denkens und die Gewöhnung an Altes die Geschwindigkeit des Verständnisses bestimmen.

Phänomene sind leer von inhärenter Existenz

Betrachten wir die relativistische Kosmologie aus der philosophischen Perspektive, ist sie eine Bestätigung der buddhistischen Erkenntnis vom Leer-Sein aller Phänomene von inhärenter Existenz, die Buddha mit den Worten formulierte:

„Die Phänomene sind leer davon,
aus sich heraus zu existieren.“

Phänomene – also Erscheinungen - existieren erst aufgrund der vielfältigen Wechselbeziehungen untereinander, werden sichtbar nur durch ihre beziehungsmäßigen Bedingungen [23]. So entsteht eine Erscheinung, besteht eine Weile, um schon bald wieder zu vergehen. Das Leben ist eine ständige Metamorphose von Phänomenen, einschließlich dessen, was wir als Körper bezeichnen. Einzelnes kann nicht endgültig isoliert werden, besteht nicht aus sich heraus, sondern nur in dem Kontinuum einer Metamorphose. Wir können nur die Wahrscheinlichkeitsräume des abhängigen Entstehens, Bestehens und Vergehens benennen.

„Nur wenn Dinge in einem einzigartigen Moment
in einer spezifischen Beziehung zueinander stehen,
können wir sie als beziehungsmäßige Bedingungen einer Wirkung bezeichnen."[24]

Erwin Schrödinger meditiert über das Kontinuum des Lebens in seinen philosophischen Schriften: „Kein Ich steht alleine. Hinter ihm liegt eine unermessliche Kette von physischen und intellektuellen Geschehen, der es als gegenwärtiges Glied angehört und die es fortsetzt. Durch den augenblicklichen Stand seines somatischen und seines Zerebralsystems und durch Erziehung und Überlieferung in Wort, Schrift, Denkmal, Sitte, Lebensform, geschaffener Umgebung..., durch all dies noch mit tausenden Worten zu Bezeichnende, in tausend Wendungen nicht zu Erschöpfende, ist das Ich nicht nur verkettet mit dem Ahnengeschehen, nicht nur ausschließlich sein Erzeugnis, sondern vielmehr im strengsten Sinne des Wortes mit ihm dasselbe, seine streng unmittelbare Fortsetzung - wie das Ich mit fünfzig Jahren die Fortsetzung des Ichs von vierzig Jahren ist." [25] Das nun ist wirkliche Revolution gegen das alltägliche, westliche Lebensverständnis. Schrödinger benennt damit ein Kontinuum des Geistes, das weit über den aktuellen Körper hinaus reicht.

Dies ist eigentlich leicht zu verstehen, steht aber in drastischem Widerspruch zu unserer Wahnvorstellung über die reine Existenz des Materiellen, woran alles, selbst der Geist gebunden sei. Geben wir diese Wahnvorstellung auf und erkennen Körper und Geist als zwei verschiedene Einheiten des Lebens, fühlen wir unmittelbar:

Der Geist ist ein Kontinuum (lückenlos Zusammenhängendes),
das sich über die Jahrhunderte ständig verändert
und selbst nicht aus sich heraus existiert.

Fassen wir in Ruhe die Konsequenzen aus dem quantenmechanischen Weltbild zusammen:

i. Die konventionell wahrgenommenen Dinge existieren nicht substanziell und unabhängig. Sie existieren und erscheinen vielmehr aufgrund von vielfältigen Bedingungen und Beziehungen. Sie sind abhängig vom jeweiligen Wahrnehmungsinstrument bzw. den so vermittelten Sinneseindrücken und in besonderer Weise abhängig vom wahrnehmenden Geist und den in ihm vorliegenden Ideen oder Theorien zur Interpretation des Erschienenen - ganz im Sinne Sokrates‘ und Einsteins.

ii. Die Dinge sind nur das Produkt einer kurzfristigen Manifestation von Beziehungssituationen. Ohne Beziehungen existieren weder Dinge noch ihre Teile. Das Elektron wird erst aufgrund der Beziehungsenergien und Beziehungsstrukturen zu dem, was wir Atomkern, andere Elektronen und Elementarteilchen nennen, und damit zu dem, was wir in einem geistigen Akt als Elektron interpretieren. Verändern sich Beziehungsstruktur und Beziehungsenergien, verändern sich die immer nur konventionell wahrnehmbaren Dinge. Materie ist in diesem Kontext nur ein Abbild der verschiedenen Beziehungssysteme.

„Es gibt streng genommen keine Elektronen, es gibt keinen Atomkern,
sie sind eigentlich nur Schwingungsfiguren.
Eine Art Schwingungsfigur wie das Handy-Gespräch im elektromagnetischen Feld,
nichts Materielles im eigentlichen Sinne.
An diesem Punkt haben wir Materie verloren."[26]

Die Suche nach dem ICH

Was bedeutet dies nun für mich und meinen Körper, für meine Beziehung zu anderen und zur materiellen Welt? ICH bin doch vorhanden, fühle Schmerzen und Freude, rede, spreche, liebe usw. Ist mein Körper nur eine Illusion? Gewiss ist der Körper keine Illusion, denn der Schmerz, der entsteht, wenn ich mir mit dem Hammer auf den Daumen haue, ist sehr real. Der Daumenschmerz ist das Ergebnis einer Beziehung zwischen eben jenem Hammer und meinem verworrenen Geist, der den Schlag zulässt. Manchmal ist der Geist so verwirrt, dass er immer wieder auf den Daumen haut und nichts mehr fühlt. 

Aber mein Körper ist ganz offensichtlich nichts Einheitliches, ist nur ein momentaner Zustand, der aufgrund von vielfältigen Beziehungsenergien, Bedingungen und Abhängigkeiten von Trilliarden von inneren und äußeren Einflussfaktoren genau zu diesem Moment so existiert, wie er existiert. Er verändert sich in jedem Moment. Könnten wir die einzelnen Atome an einer Körperstelle markieren, würden wir schon nach wenigen Stunden feststellen, dass keines an ihrem ursprünglichen Ort verbleibt. Materie ist in ständiger Veränderung und Bewegung. Deshalb heilen Wunden, wobei neue Materie an alter Stelle ersetzt wird. Deshalb wachsen wir. Und deshalb altern wir. Bilder dieses Körpers aus der Vergangenheit im Vergleich mit heute sind eindeutige Belege.

Doch wenn wir von ICH sprechen, fühlen wir etwas Einheitliches, Unteilbares, aus sich heraus Existierendes, etwas mit einem Eigen-sein. Beispielsweise in bedrohlichen Situationen bei Unfällen oder Krankheiten. Dann entsteht fast automatisch das Gefühl einer ICH-Identität, an der man sich festhalten will, die schützen soll. Dabei erscheint das ICH als würde es aus sich heraus existieren.

Untersuche ich aber später in der Ruhe des Zurückgezogen-Seins das angeblich inhärente ICH, stellt sich heraus, dass es sich auf zwei Teile bezieht: Körper und Geist, wobei der Körper uns das Dominate scheint. „Versuche ich an der herrschenden Ansicht festzuhalten und die mir durch mein Erleben höchst gewisse Einheit meines ICH auf jene äußerliche und relative Einheitlichkeit einer somatischen Individualität zurückzuführen, so finde ich mich vor ein undurchdringliches Dickicht von Fragen gestellt. Warum, frage ich, kommt gerade meinem Leib einheitliches Ich-Bewusstsein zu, hingegen der Zelle, dem Organ noch nicht, dem Menschenstaat nicht mehr? Oder, wenn dem nicht so ist: Wie setzt sich mein ICH aus den einzelnen ICH meiner Gehirnzellen zusammen?" [27]

Ist also ein Kohlenstoff-Atom des Gehirns mein ICH? Oder ist das Elektron eines Sauerstoffatoms mein ICH? Sicherlich nicht. Durch intensives Nachdenken wächst die Erkenntnis, dass der Körper nur als Zusammenspiel von unzählbaren Faktoren, Atomen und Energien erscheint. Der Körper ist ein grandios zusammengesetztes Etwas, viel komplexer, als wir uns dies vorstellen. Denn würden wir die chemischen Elemente des Körpers einfach nur zusammen mixen - man nehme zehn Kilogramm Kohlenstoff, fünf Kilogramm Wasserstoff usw. - ergäbe sich daraus kein Körper, der meinem oder anderen Körpern auch nur ähnlich wäre.

Meditiere ich über diese Beobachtung wird klar, dass beide - Körper und Geist - nicht unabhängig existieren. Der Körper benötigt Nahrung, Wasser, Liebe, Zuwendung, Gespräche. Der Geist benötigt die Wechselwirkung mit dem Geist anderer Menschen. Untersuchen wir den Körper wie die Holzplatte, verschwindet er mit jeder Verkleinerungsstufe. Das rein Materielle reicht nicht aus, um einen Körper zu konstituieren. Die Beziehungsstruktur der chemischen Elemente zueinander ist erforderlich, braucht ein Programm, ähnlich einer Software. Dieses Programm kann jedoch grundsätzlich nur eine Information oder eine Erkenntnis sein - also etwas Nicht-Materielles. Denn wäre der strukturbestimmende Faktor etwas Materielles, müsste er in den üblichen Elementen der Materie zu finden sein, was nach dem heutigen Wissensstand nicht der Fall ist.

Bezeichnen wir dieses beziehungsbestimmende Programm als Geist, so lernen wir mit Erwin Schrödinger:

„Außenwelt und Bewusstsein [Geist] sind ein und dasselbe,
sofern dieselben Elemente diese wie jene zusammensetzen." [28]

Auch hier findet sich wieder eine Parallele zur Antike, denn Aristoteles stellte die These auf, die Seele setze sich aus den gleichen Bausteinen zusammen wie die Materie. Allerdings haben westliche Denkende aufgrund dieser These immer nur die Materie untersucht und nicht verstanden, dass die Bausteine der Materie im Geist zu finden sind.

Weder Materie noch Geist sind substanziell.

Untersuchen wir deshalb die Frage: Ist der Geist ein materielles Phänomen? Ist das Gehirn der Geist? Das wesentliche Argument gegen die These, dass der Geist materiell sei, leitet sich aus der Quantenmechanik ab, was vermutlich Erwin Schrödinger dazu bewogen, von der Anfangslosigkeit seines Geistes zu sprechen, wenn er wenige Wochen vor seinem Tod schrieb:

„Durch die Geburt werde ich nicht erst erschaffen,
sondern gleichsam nur wie aus einem tiefen Schlaf geholt.
So erscheint mir dann mein Hoffen und Streben, Bangen und Sorgen
als dasselbe wie das von Tausenden, die vor mir gelebt haben,
und ich darf glauben, dass ich auch nach Tausenden von Jahren noch Erfüllung finden kann,
das ich vor Jahrtausenden zum ersten Mal erfleht habe.
Kein Gedanke keimt in mir auf, der nicht die Fortsetzung eines Ahnen
und darum in Wahrheit kein junger Keim ist,
sondern die Weiterentfaltung eines Triebs am uralten heiligen Baum des Lebens wäre." [29]

Das Argument der Quantenmechanik, das dieser Aussage zugrunde liegt und die nicht-materielle Eigenschaft des Geistes und damit dessen Anfangslosigkeit belegt, steckt in der einfachen Feststellung von Hans Peter Dürr:

„Die Materie ist im Grunde nicht wirklich Materie."

Zergliedern wir Materie quantenmechanisch in immer kleinere Einheiten, verliert sie sich in einem leeren Raum, dessen „Schwingungsfiguren" oder „Potentiale" sich nur noch mit mathematischen Wahrscheinlichkeitsräumen beschreiben lassen. Ein Elektron ist für einen Moment nur deshalb ein Elektron, weil es in einer spezifischen Beziehung zu anderem steht. Das Elektron besteht also nicht aus sich heraus, sondern erst aufgrund einer momentanen Wechselbeziehung mit anderem. Dies bedeutet, dass wir Materie im klassisch physikalischen Sinn, in der Dimension unserer verdinglichenden Sprache, nicht mehr finden können. Wir können nicht sagen: „Sehr her, hier ist das Ding, das sich Elektron nennt."

Eine Wirkung dieser quantenmechanischen Leere der Dinge von inhärenter Existenz ist, dass bei einem Handy-Gespräch nicht ein Stück Materie von A nach B transportiert wird. Wir haben keine konkrete Vorstellung davon, wie ein Handy-Gespräch exakt funktioniert, weil wir keine Sprache haben, mit der wir diese Prozesse beschreiben könnten. Denn unsere Sprache lebt in der Welt der Dinge.

Metaphysische Aspekte des Lebens, die über empirische Erfahrung hinausgehen, beschreiben wir deshalb mit Metaphern, durch die wir Übersinnliches mit Sinnlichem ins Verhältnis setzen. Bei Handy-Gespräch ist dies die Metapher einer Welle, der wir den Beinamen elektromagnetisch geben und damit zum Ausdruck bringen, dass das Unbekannte mit Elektrischem und Magnetischem in Beziehung steht. Doch wir wissen nicht wirklich, was diese Wellen sind. Wir erleben nur täglich, dass dadurch Informationen transportiert werden.

Nun zum Argument hinsichtlich des Geistes: Weil die Materie – wie die Quantenmechanik aufzeigt - leer ist von inhärenter Existenz, also kein Eigensein besitzt, ist der Geist mindestens von gleicher Qualität. Denn wäre er nicht leer von inhärenter Existenz, entspräche er in dieser Hinsicht nicht einmal der Materie. Pointiert formuliert:

Weil die Materie nicht wirklich Materie ist,
basiert auch der Geist auf keiner Substanz.

Das Leer-sein des Geistes von inhärenter Existenz bedeutet, dass die unmittelbare Erkenntnis, die der Geist darstellt, leer ist von einem Eigen-sein. Es gibt also keine Substanz, der Inbegriff des Materiellen, die wir mit dem Geist verbinden können. Auch keine chemische Reaktion in einem Gehirn oder an deren Stellen des Körpers. Analysieren wir die Materie wie auch den Geist in den kleinsten Ebenen, hören sie auf, Materie zu sein. Sie sind ein leerer Raum, in dem irgendetwas in Beziehung zu anderem steht.

Sowohl beim Geist wie auch bei dem, was wir Materie nennen ist der Aspekt der Beziehung besonders relevant und prägend. Daher können wir mit guten Argumenten feststellen:

Materie und Geist sind Räume, in denen sich Beziehungen abbilden.

Aber ist der Geist nicht doch das Gehirn?

Empiriker argumentieren an dieser Stelle vermutlich, dass wir mit Hilfe der MRT-Untersuchungen des Gehirns doch sehen können, dass bei einem Gedanken oder einer Meditation bestimmte Areal des Gehirns aktiviert werden. Aus diesen Aktivitäten könne man schließen, dass das Gehirn der Ort des Geistes sei, vielleicht sogar mit ihm identisch. Da das Gehirn zudem wie jedes Organ genetisch codiert sei, liege die Intelligenz oder der Geist in der DNA.

Diese Argumentation besteht aus zwei Teilen. Der erste Aspekt ist das Argument, die Intelligenz des Menschen sei in der DNA, also irgendwie in unseren 30.000 Genen verankert. Schauen wir uns einfache logische Argumente gegen diese These der genetischen Codierung an:

- 99% unserer Gene sind identisch mit denen der Menschen-Affen, so dass uns ganz 300 Gene voneinander unterscheiden. Viele davon sind sicherlich für körperliche Merkmale erforderlich, so dass am Ende nur wenige Gene zur Codierung des menschlichen Geistes übrig blieben. Angesichts der Größe und der Bedeutung des Geistes für das Leben eines Menschen ist es mehr als unwahrscheinlich, dass die Natur ein so bedeutendes Merkmal des Menschen durch weniger als 100 Gene zustande bringen würde.

- 99.99% unserer Gene sind identisch mit denen der Menschen vor 100.000 Jahren. Wäre der Geist genetisch codiert, müssten die Geisteszustände der Menschen heute mit den vor 100.000 Jahren lebenden zu 99,99% identisch sein. Das ist offensichtloch nicht der Fall, was wir an der kulturellen Vielfalt und der intellektuellen wie auch technischen Entwicklung ablesen können. Auch hier liegt ein eklatanter Widerspruch zwischen Theorie und Wirklichkeit vor.

- Die Anzahl der Menschen, die in den vergangenen 100.000 Jahren gelebt haben, können wir mit mindestens als 100 Milliarden Menschen abschätzen, die alle unterschiedliche Geisteszuständen hatten, die mit mindestens 1000 konservativ abgeschätzt werden können, so dass ohne Dopplungen mindestens 100 Billionen verschiedene Genkombinationen notwendig wären, um die Geisteszustände aller bislang gelebten Menschen abzubilden. Auch diese Dimensionsbetrachtung steht im Widerspruch zur Wirklichkeit von 30.000 Genen.

Alleine diese einfachen Abschätzungen der Relationen, die in jeder Naturwissenschaft verwendet werden, um eine Theorie auf Plausibilität zu prüfen, zeigen, dass der Geist kein Produkt der Gene sein kann. Normalerweise würde ein guter Wissenschaftler bzw. eine gute Wissenschaftlerin an dieser Stelle die These verwerfen und nach anderen Hypothesen suchen. Aber schauen wir trotzdem weiter, angesichts der Hartnäckigkeit, mit der sich das Argument der Körperlichkeit des Geistes hält:

Schauen wir hierzu auf die Fragen, die Sokrates stellen würde: Wenn das Gehirn der Ort und die Ursache des Geistes wäre, wie kann in einem Gehirn mit der Geburt bereits die ganze Vielfalt des Wissens vorliegen, obwohl wir keine entsprechenden Gene oder Ursachen dafür finden können? Warum hat ein neugeborener Mensch die Anlagen zu einem Musikgenie oder einer anderen besonderen Fähigkeit, wie wir dies bei den als Savant bezeichneten Menschen beobachten können, und ein anderer Menschen nicht, obwohl kein Gen für Musik, für Mathematik, für Intelligenz auffindbar ist? „Es gibt keinen Ort im Gehirn, wo Intelligenz konzentriert wäre" [30], stellt die moderne Gehirnforschung fest.

Gehirnforschende wie Wolf Singer begegnen dem Argument, dass es kein Gen oder keine Zentrale für die Intelligenz im Gehirn gibt mit der Begründung: „Die Intelligenz residiert in der funktionellen Architektur des Gehirns, ist eine emergente Eigenschaft des Ensembles selektiv gekoppelter Neuronen." [31] Dies bedeutet, dass aus der Kombination der Neuronen und des Wissens, dass in den Neuronen Ensembles gespeichert wird, sich Neues ergibt.

Diese Sicht ist sicherlich richtig für die Aspekte, die aus Vorhandenem entwickelt werden können. Beispielsweise kann aus dem Wissen über ein Rad die Idee eines Wagen aus vier Rädern mit einer Fläche, die die vier Räder verbinden, neu kombiniert werden. Aus dem Wissen, dass bei einer Verbrennung Gase entstehen, kann leicht das Prinzip der Verbrennungsmotoren erdacht werden. Fast alle Ingenieurleistungen gehören in die Kategorie der Re-Kombination von bekannten Daten. Was aber, wenn es überhaupt keine Verbindung zwischen bereits Existierendem und etwas vollkommen neu Gedachtem gibt? Dann ist das Argument der emergenten Herleitung hinfällig. Finden wir also nur ein Beispiel, stürzt das Emergenz-Argument in sich zusammen.

Der Fall des Galilei ist ein solches, zudem berühmtes Beispiel: Woher sollte Galilei gewusst haben, dass die Erde sich um die Sonne dreht, obwohl alle Daten, alle Theorien und alle anderen Meinungen hierzu um 1600 das Gegenteil bewiesen? Alle astronomischen Daten widersprachen seiner These. Er konnte auf kein Vorwissen zurück greifen, aus dem sich emergent Neues hätte entwickeln können. Ähnliches finden wir bei allen Genies, weshalb wir sie so nennen, denn sie haben die Fähigkeit, vollständig Neues intuitiv zu denken und damit zu erschaffen.

Um mit Sokrates [32] zu sprechen, führt dies zu der einfachen Frage: „Woher sollen wir wissen, dass wir etwas Wissen", wenn ein spezifisches Basiswissen mit einem Geist nicht von außen in unseren Körper eintritt? Mit Kants [33] Worten stellt sich die Frage: Wie kann die Empirie sich ihrer Feststellungen gewiss sein, wenn sie keinen Geist annimmt, der reine Erkenntnis a priori (vor der Erfahrung) ist, da sie mit den immer gleichen Schleifen von Experimenten und Beobachtungen nur in sich konsistente, auch emergente Erkenntnisse gewinnen kann? Die Empirie ist auf einen Geist, oder mit den Worten Kants auf die „reine Vernunft" angewiesen, um überhaupt etwas Wissen zu können. Sonst schwebt sie frei in der Luft und ist ein nur in sich konsistentes Produkt ihre Beobachtungen, die auch Phantasmen sein könnten.

Kommen wir zurück zu den MRT-Untersuchungen: Die richtigen Beobachtungen, dass im Gehirn bei bestimmten Aktivitäten des Geistes spezifische Areale aktiviert werden, können mit der These eines materielosen Geistes leicht erklärt werden. Der Geist hat sichtbare Wirkungen auf unseren Körper. Um dies zu beweisen bedarf es keiner komplizierten Geräte. Schon ein einfacher Gedanke der Freude löst viele körperliche Reaktionen aus wie Lachen, Hüpfen und anderes. Und natürlich werden dabei auch spezifische Proteine wie Botenstoffe und Enzyme im Körper ausgeschüttet. Mit einer MRT-Messung sehen wir einfach nur bestimmte Aktivitäten im Gehirn als Reaktion auf den geistigen Impuls Freude. Wir sehen mit allen diesen Messungen einfach nur die Wirkung des Geistes auf das Gehirn und andere Körperteile. Würden wir den Solarplexus oder das Rückenmark ähnlich genau vermessen, würden wir ebenfalls Aktivitäten bei bestimmten Gedanken feststellen; und natürlich beim Magen, dem Darm, der Blase, beim Herz.

Denken wir noch einen Schritt weiter: MRT-Untersuchungen können keine Beweise darüber liefern, ob das Gehirn der Geist ist oder nicht, weil die Messungen keine Antwort auf die einfache Frage geben können: Was war zuerst: Henne oder Ei? Da der Geist prinzipiell physikalischen Messung nicht zugänglich ist, kann er auch nicht vermessen werden. Daraus kann nur der Schluss gezogen werden, den schon Sokrates seinen Freunden im Kerker erzählte.

Der Geist hat immer und in jedem Moment eine Wirkung auf den Körper und anderem Materiellen, das wir seit Menschengedenken mit dem unserem Geist verformen. Es sieht so aus, als wären es unsere Hände, die aus Eisenerz Eisen und daraus Autos formten. Aber es ist in Wirklichkeit die Wirkung des Geistes, dessen ständig neues Wissen wir mit variierenden Instrumenten zur Formung der Materie benutzen. Heute transformieren wir unseren Geist in eine Software, die dann Maschinen steuert, die schließlich unseren Händen gleich die Welt der Dinge formt. Die Welt der Dinge ist eine der Ausdrucksformen des Geistes.

Doch warum kann ein Experiment die Frage nach Henne oder Ei grundsätzlich nicht beantworten? Lassen wir Hegel in seiner sehr trockenen Art darauf antworten:

„Die sinnliche Gewissheit erscheint als die wahrhafteste;
denn sie hat vom Gegenstand nichts weggelassen.
Diese Gewissheit aber gibt sich selbst für die abstrakteste aus
und ist doch nur die ärmste Wahrheit.
Sie sagt von dem, was sie weiß, nur dies aus: Es ist.
Ihre Wahrheit enthält also nur das Sein der Sache." [34]

Dies ist wohl die fundamentalste Kritik an experimentellen Wissenschaften hinsichtlich so grundlegender Fragen wie dem Geist. Mit Experimenten und sinnlichen Erfahrungen können wir nur das aktuelle Sein einer Sache feststellen. Nicht dessen Ursachen und auch nicht dessen Seins-Qualitäten.

Der philosophische Materialismus führt ins nihilistische Nichts

Ein weiteres Argument mag helfen zu verstehen, dass der Geist nichts Materielles ist: Wie wir hinlänglich an Millionen Menschen beobachten können, führt uns die These, der Geist sei Materie, direkt ins nihilistische Nichts. Denn diese These besagt, dass mit dem Ende des Körpers auch der eigene Geist unwiderruflich vergeht. Aus und vorbei. Das ist für Menschen nicht zu ertragen, was vermutlich die tiefere Ursache dafür ist, dass der philosophische Materialismus zwangsläufig zu einer depressiv nihilistischen Gesellschaft führt, die wir heute erleben und meist erleiden. Glück ist mit dieser Lebenshaltung schlichtweg unmöglich. Denn als mit einem Geist ausgestatteten Wesen wissen wir ob des Nichts, das aus diesem Materialismus folgt, und fühlen Traurigkeit, Einsamkeit und Verloren-sein. Soll ich nur eine chemische Fabrik alleine im All sein? „Niemals!" ruft der Geist und will uns retten.

Nüchtern betrachtet ist das Gehirn nur ein Denkorgan von vielen ist. Denn wir denken auch mit dem Bauch, den Füssen, den Armen und vielen anderen Körperteilen. Bei jeder Wahrnehmung werden mit dem ganzen Körper Informationen aus der Umwelt aufgenommen: Luftströme, Licht, Temperatur, Geschmäcke, Töne und eben auch jene, wie das Beispiel der Spiegelneuronen [35] zeigt, die wir nicht mit den uns zur Verfügung stehenden Messmethoden erfassen können.

Das gute oder schlechte Bauchgefühl beispielsweise ist führend bei den meisten Entscheidungen – auch im Management. Wenn wichtige und tief greifende Entscheidungen anstehen, verlassen sich Geschäftsführende oder Regierungschefs umfassend darauf. Erst später wird das Bauchgefühl durch Analysen, Studien, Expertisen und andere rationale Prozesse von vertrauenswürdigen Mitarbeitenden oder Beratenden unterstützt und verifiziert. Doch schon die Frage: „Wer hat die Analyse durchgeführt?" weist auf die große Bedeutung der Intuition hin.

Entscheidungen gegen den Bauch, also gegen die Intuition einer entscheidenden Person, finden äußerst selten statt. Wer bewusst mit dem ganzen Körper intuitiv denkt, macht schon den ersten großen Schritt hin zu einer hoch qualifizierten Managementpersönlichkeit. Vielleicht ist dies das einfache Geheimnis vieler Frauen, die aufgrund ihrer Sozialisation bislang die bessere Fähigkeit zur Nutzung ihres Körpers als intuitives Denkorgan haben. Doch auch hier versucht sich der Materialismus durchzusetzen und diskreditiert das intuitive Denken. „Fakten! Fakten! Fakten!" lautet der Schlachtruf des Materialismus und zerstört damit die Beziehungsgeflechte des Geistes wie der Materie. Zahlen leben nicht.

Die Überzeugung, dass der Geist nichts Materielles ist, führt Hegel zu der Feststellung, die Asanga und viele andere buddhistische Meister bereits einige Jahrhunderte zuvor erkannt hatten:

„Das Geistige allein ist das Wirkliche;
es ist das Wesen oder An-sich-seiende,
das sich Verhaltende und Bestimmte,
das Anders-sein und Für-sich-sein;
es ist an-und-für-sich." [36]


Beim Lesen dieser ungewohnten Wortkonstruktionen kommt es darauf an, jedes einzelne Wort wörtlich zu verstehen. Die Formulierung, das Geistige „ist an-und-für-sich" bedeutet, dass die Gedanken aus der Wechselwirkung zwischen Geist und einer Sache nur dem Geist an-sich und für-sich zugänglich sind. Darin liegt die vollständige Subjektivität und Individualität jedes Gedanken. Kein anderer kann den Baum, den ich gerade in diesem Moment aus dem Fenster schauend sehe, je wieder so wahrnehmen, wie mein Geist in diesem einen Moment. Die unmittelbare Wahrnehmung ist das momentane An-und-für-sich-sein des Baumes.

An dieser Stelle argumentieren Empiriker: „Ja, das mag alles richtig sein. Doch selbst wenn du dich umdrehst, steht doch der Baum immer noch dort. Das können andere, die den Baum dann sehen, bestätigen."

Auch diese Aussage bringt keine wirklich neuen Erkenntnisse: Ja, es ist richtig, dass andere nach mir etwas sehen, das sie ebenfalls als Baum bezeichnen. Doch werden sie das, was sie sehen, niemals so sehen, wie ich es zuvor gesehen habe, weil die Beziehung meines Geistes mit diesem Etwas individuell und momentan ist. Auch die Bäume, die andere sehen, sind rein individuell und momentan. Wir können uns mit der Sprache darüber verständigen, dass wir etwas ähnliches gesehen haben und dafür den gleichen Begriff verwenden wollen. Doch damit wird der Baum nur zu einer Benennung. Etwas Abstraktes. Ein Wissen. Unabhängig von einem Ding. Ein Objekt des Geistes. Womit sich Asangas These über den Geist bestätigt:

„Der Geist ist eine unmittelbare Erkenntnis".

Anzumerken bleibt, dass die Benennung durch den Begriff Baum so grob ist, dass sie zig Milliarden verschiedener Bäume gar nicht abbilden kann. Wir brauchen immer sehr viele verschiedenen Umschreibungen, um ein Wissensobjekt anderen genauso mitzuteilen, wie wir es wahrgenommen haben. Das ist die Ursache dafür, warum Sprache prinzipiell nicht digitalisiert werden kann und in jedem Begriff so viele Bedeutungen mitschwingen.

Suchen wir dann gemeinsam nach dem Ding, für das wir in einem Moment den Begriff Baum als Vereinbarung nutzen, zerlegen und zerkleinern wir diesen Baum in immer weitere kleiner Einheiten, werden wir ihn nicht finden: Ist der Ast der Baum? Der Stamm? Das Blatt? Sein Holz oder seine Wurzel? Ist es ein Sauerstoffatom hier oder das Kohlenstoffatom dort? Welches Elektron in welcher der unzähligen Strukturen, die wir Atome nennen, soll denn der Baum sein? Wir finden keinen Baum - außer den des je individuellen, momentanen Geisteszustandes, wo wir die Eindrücke transformiert und gespeichert haben.

Damit ist ausreichend belegt, dass der Geist nichts Materielles ist. Wer weiter daran glauben will, mag es nur tun, solange niemand dadurch leidet.

[1] Üblicher Weise wird der Sanskrit Begriff sunya übersetzt mit Leerheit. Aber diese Substantivierung durch die Endung –heit verdinglicht das Leer-sein fälschlicher Weise. Sunya entspricht vielmehr einem Seins-Zustand, weshalb der Begriff Leer-sein dies besser ausdrückt.
[2] Werner Heisenberg, Quantentheorie und Philosophie, Reclam 9948, 1979, S. 56
[3] Der Begriff Entität bedeutet, dass es sich um eine unabhängige Einheit, um etwas Seiendes handelt. Siehe hierzu auch: de.wikipedia.org/wiki/Entität
[4] Werner Heisenberg, Quantentheorie und Philosophie, S. 57
[5] Hans-Peter Dürr, Geist, Kosmos und Physik, S. 58ff
[6] Hans-Peter Dürr, Geist, Kosmos und Physik, S. 60
[7] Homer gilt als einer der ersteh Dichter Europas, der vermutlich im 8. Jahrhundert v. Chr. Gelebt hat. Seine Geschichten beschreiben vermutlich Ereignisse, die um zwischen 2000 und 1200 v. Chr. stattgefunden haben.
[8] Paul Feyerabend, Wider den Methodenzwang, S. 320
[9] Paul Feyerabend, Wider den Methodenzwang, S. 334
[10] Karl Jaspers, Aus dem Ursprung denkende Metaphysik, S. 23 - 25
[11] Der Begriff relativistische Kosmologie bezieht sich auf Einsteins Relativitätstheorie und darf nicht mit dem neoliberalen Begriff des philosophischen Relativismus verwechselt werden.
[12] Aus dem Griechischen: Lehre über Seiendes
[13] Paul Feyerabend, Wider den Methodenzwang, S. 373
[14] Werner Heisenberg, Quantentheorie und Philosophie, S. 54
[15] Werner Heisenberg, Quantentheorie und Philosophie, S. 55
[16] Sokrates im Theaitetos, zitiert nach Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes
[17] Albert Einstein im Gespräch mit Werner Heisenberg, in: Werner Heisenberg, Quantentheorie und Philosophie, S. 31
[18] Hanna Arendt, Vom Leben des Geistes, S. 31
[19] Hanna Arendt, Vom Leben des Geistes, S. 32
[20] Werner Heisenberg, Quantentheorie und Philosophie, S. 50
[21] Nagarjuna, Lehre der Mitte, Kapitel 1, Vers 1 (eigene Übersetzung)
[22] Impuls entspricht der Geschwindigkeit einer Masse (p= mv). Mit Geschwindigkeit definiert als Distanz l pro Zeiteinheit (v=l/t) ergibt sich, dass der Impuls auch beschrieben werden kann als p= ml/t
[23] Kenneth Inada hat in seiner schönen Übersetzung von Nagarjunas Mulamadhyamakakarika (Lehre der Mitte) den Begriff der „relational conditions" für den Sanskrit Begriff „pratyaya" geprägt, den ich mit „beziehungsmäßiger Bedingung" übersetzen möchte. Siehe hierzu: Kenneth Inada, Nagarjuna - A translation of his Mulamadhyamakakarika, S. 38
[24] Nagarjuna, Lehre der Mitte, Kapitel 1, Vers 5 (eigene Übersetzung)
[25] Erwin Schrödinger, Mein Leben, meine Weltansicht, S. 79. 
[26] Hans-Peter Dürr, Geist, Kosmos und Physik, S. 62
[27] Erwin Schrödinger, Mein Leben, meine Weltansicht, S. 86
[28] Erwin Schrödinger, Mein Leben, meine Weltansicht, S. 91
[29] Erwin Schrödinger, Mein Leben, meine Weltansicht, S. 80; Schrödinger schrieb diese Zeilen im November 1960, wenige Wochen vor seinem Tod am 4. Januar 1961.// siehe hierzu Lebenskreise, Band 1 S. 63
[30] Siehe hierzu: Lebenskreis Band 1, Kapitel: Geist und Krankheit, S. 253 ff
[31] Wolf Singer, Der Beobachter im Gehirn, S. 209
[32] Platon, Phaidon S. 32-35: In einem Gespräch mit seinem Freund Simmias über die Argumente, warum der Geist von außen in den Körper treten muss.
[33] Kant, Kritik der einen Vernunft, S. 47
[34] G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 82 
[35] Siehe hierzu: Lebenskreise Band 1, Kapitel: Die neuronale Kommunikation verbindet uns permanent, S 138 ff 
[36] G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 28

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