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Kann der IS-Terror gewaltfrei beendet werden? (2014)

  • Mittwoch, 22 Oktober 2014 00:00
(Foto: Ricardo Neto) (Foto: Ricardo Neto) Ricardo Neto

von Hans Korfmacher

Seit Wochen hören und lesen wir auf allen Medienkanälen über den mörderischen Terror der Milizen des sogenannten Islamischen Staates. Wir sehen Bilder des Grauens, der Zerstörung und Menschenverachtung. Und jeden Abend sind wohl die meisten von uns hin und her gerissen zwischen dem Wunsch nach einer gewaltfreien Lösung des Konflikts einerseits und dem Verlangen nach einer militärischen Intervention durch Waffenlieferungen, Bombenangriffe oder gar Bodentruppen andererseits, damit den im Nordirak und Nordsyrien lebenden Menschen endlich geholfen wird. Bei Berichten über amerikanische Bombenangriffe auf die IS-Milizen im Nordirak empfinden vermutlich viele, mit einem leichten Lächeln auf dem Gesicht, die heimliche Freude eines: „Den zeigen wir es jetzt einmal!“ Genauso wie 1998, als die NATO mit Bomben auf Belgrad die serbischen Muslime vor Massenmord und Genozid zu schützen versuchte. Wieder sitzen wir auf unseren Sofas und glauben daran, dass Bomben Unrecht verhindert könnten. Hatte 1998 nicht selbst der grüne Außenminister die deutsche Kriegsbeteiligung in Serbien mit der Verhinderung eines Genozids rechtfertigt – durchaus vergleichbar mit Thomas Manns berühmter Freude über den Beginn des Ersten Weltkrieges? 

Gleichzeitig wird in den Medien genüsslich ausgebreitet, dass die Bundeswehr für einen militärischen Einsatz aktuell nicht tauglich sei. Vor einem Jahr noch hätten wir uns leise über die vermeintliche Nicht-Kampffähigkeit einer Armee gefreut, die bis 1945 selbst Ausgangspunkt weltweiten Terrors war. Wir in Deutschland, die Deutschen, sind heute wohl pazifistischer, als wir es uns selbst zutrauen. Man möchte rufen: „Zum Glück!“ Denn Freiheit und Waffengewalt sind und bleiben direkte Widersprüche. Doch können die Nachrichten über eine geschwächte Bundeswehr nicht auch ein geschickter Schachzug derjenigen sein, die unseren deutschen Pazifismus zu überwinden versuchen, um uns auf globale militärische Interventionen emotional vorzubereiten? Selbst manche Äußerungen des zunächst vertrauenswürdigen, priesterlich geschulten Bundespräsidenten weisen in diese Richtung. 

Und doch: Die Bilder über die IS-Terrorbanden stellen die stillen Glücksmomente des deutschen Pazifismus in Frage: Kann ein derartiger Terror überhaupt mit pazifistischen Strategien beendet werden? Wie könnten solche Strategien aussehen? Als pazifistisch denkende und fühlende Menschen können wir nicht wegschauen und darauf hoffen, dass die US-Army mit gewohnter Gewalt eingreifen  und das Weltgeschehen zu unseren Gunsten richtet. Der Appell des Dalai Lama am 24. August 2014 in Hamburg, dass jeder und jede Einzelne von uns eine Verantwortung für den Frieden in der Welt trägt, erfordert, dass wir über gewaltfreie Konfliktlösungsstrategien auch für so schwierige Situationen wie der im Nahen Osten [1] nachdenken. Dieses Denken anzuregen, ist Ziel dieses Essay. 

Veränderung erfordert Verstehen

Um eine bestimmte Wirkung zu erzielen, sind spezifische Ursachen notwendig. Wollen wir eine unerwünschte Wirkung verändern, müssen wir die zugehörigen  Ursachen erkennen und verstehen, um daraus Strategien und Handlungen  abzuleiten, die von einer unerwünschten hin zu einer angestrebten Wirkung führen können. Brennt es, müssen wir den Feuerherd finden und ihm Brandmaterialien und Sauerstoff entziehen. Wenn ein Feuer bereits brennt, können wir seine Ursachen nicht mehr verändern, denn sie verwirklichen sich gerade in Gestalt des  Feuers. Kennen wir aber die für das Feuer nötigen Brandmaterialien, können wir Maßnahmen ergreifen, die dem Feuer in Zukunft die Nahrung entziehen werden. 

An diesem einfachen Beispiel wird die grundsätzliche Vorgehensweise zur Entwicklung einer Strategie auch für scheinbar aussichtslose Situationen erkennbar. Angewendet auf die Situation im Nahen Osten bedeutet das: Wenn wir die Ursachen für das Entstehen des IS-Terrors verstehen, können wir daraus Strategien ableiten, mit deren Hilfe weitere Ursachen für Mord und Vergewaltigung, Krieg und Vernichtung  vermieden werden können. Gleichzeitig können dadurch neue Ursachen erzeugt werden, die ein friedliches Zusammenleben der Menschen in der Region möglich machen. Machen wir uns also zunächst auf den Weg, die Landschaften der Region im Hinblick auf das Entstehen des IS-Terrors zu verstehen.

Iran und Irak als westliche Vorposten zur Sicherung arabischen Öls 

Nach allem, was die Medien uns berichten, wohl gestützt auf Informationen aus Geheimdiensten und von mutigen Journalisten, die im Irak und Syrien  recherchiert haben, bestehen die Führungskader der IS-Milizen zu weiten Teilen aus ehemaligen Offizieren der früheren irakischen Armee. Saddam Hussein hatte einst die im Süden des Irak lebenden Schiiten sowie die im Norden des Landes wohnenden Kurden mit Hilfe seiner sunnitischen Armee unterdrücken und ermorden lassen. Der 1980 begonnene grausame achtjährige Krieg gegen den schiitischen Iran um die Ölquellen im südlichen Grenzgebiet der beiden Länder, sowie der Giftgasangriff auf ein Dorf der nach Freiheit strebenden Kurden im Nordirak 1988, sind die traurigen Zeugnisse dieser Gewalt. 

Doch zur Wahrheit gehört auch, dass die in den heutigen IS-Milizen kämpfenden Soldaten die Fähigkeiten zu solchen Mordtaten erst durch die Unterstützung westlicher Regierungen erlangt haben. Um diesen scheinbar von Wahnsinn getriebenen Prozess zu verstehen, ist ein vertiefender Blick in die Geschichte der beiden Länder Iran und Irak nötig:  

Im Iran kam Schah Reza Pahlavi 1941 als regulärer Monarch an die Macht. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges beendete er gegen den Willen der Großgrundbesitzenden und der schiitischen Geistlichen die feudalistischen Gesellschaftsstrukturen. Er führte den Iran in eine säkulare Gesellschaft, die sogar die Gleichberechtigung der Frauen zum Ziel hatte, was ihm großen Respekt im Westen und viel Ärger mit der schiitischen Geistlichkeit einbrachte. Zu Beginn seiner Amtszeit schien der Monarch sogar den Wunsch zu hegen, den Öl-Reichtum des Landes für das Wohl der Iraner und Iranerinnen nutzbar zu machen, anstatt über 90% der Gewinne westlichen Ölkonzernen zu überlassen. So verstaatlichte die iranische Regierung unter Pahlavi 1951 alle im Iran tätigen Ölgesellschaften und zog sich den Unmut vor allem der angelsächsischen Regierungen zu. 

Doch der sich entwickelnde Kalte Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion zwang den Iran bald andere Positionen zu beziehen: Nach einem Besuch des Schah in den USA 1962 avancierte der Iran zum neuen Verbündeten des Westens: Die Verstaatlichung der Ölkonzerne wurde gelockert. Die iranische Armee wurde im Gegenzug aufgerüstet, um eine sowjetische Expansionspolitik im arabischen Raum zu verhindern. Fortan übernahm der Iran die Rolle, westliche Ölinteressen zu schützen. 

Der Clan des Schah regierte in der Folge klassisch-diktatorisch und profitierte selbst am meisten vom Ölreichtum des Landes - heute wohl vergleichbar mit den Oligarchen in der Ukraine, Weißrussland oder Kasachstan. Die Bevölkerung verarmte entsprechend, was wiederum den Weg für die islamische Revolution 1979 vorbereitete. Im Januar 1979 fiel der Iran dann in die Hände jenes berühmten Ajatollah Chomeini, der die klerikal-feudale Gesellschaftsstruktur im Iran erneuerte. Der Iran fiel fortan als Schutzwall für westliche Ölinteressen aus. 

Diese Rolle übernahm 1979 der Irak, wo Saddam Hussein im gleichen Jahr zum Vorsitzenden der sich sozialistisch nennenden irakischen Baath-Partei bestimmt und zum Premierminister und Staatspräsidenten ernannt wurde. Seine Karriere hatte er zuvor im Geheimdienst begonnen. Unter seiner Leitung waren zwar 1972 die im Irak tätigen westlichen Ölfirmen - wie zwanzig Jahre zuvor im Iran - verstaatlicht worden, was ihm gleichfalls viele Konflikte mit den angelsächsischen Regierung eintrug. Dennoch wurde der Irak seit 1972 systematisch aufgerüstet, woran besonders Unternehmen aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien sowie den USA beteiligt waren. Mit der islamischen Revolution 1979 im Iran wurde diese Aufrüstung der irakischen Armee nochmals verstärkt, damit Saddam Hussein und seine Armee die Rolle des Schutzwalles für westliche Ölinteressen übernehmen konnte. 

Doch wo Waffen sind, werden sie auch verwendet - zumal wenn wirtschaftliche Interessen verteidigt werden sollen. Als Konsequenz aus der Aufrüstung begann der sunnitisch regierte Irak unter seinem Führer Saddam Hussein mit der Feuerkraft  westlicher Waffen am 22. September 1980 den ersten Golfkrieg gegen das verhasste schiitische Regime in Teheran. Dahinter stand das Kalkül der westlichen Regierungen, Ajatollah Chomeini mit Hilfe des Diktators in Bagdad zu stürzen; höchst wahrscheinlich mit dem Ziel, in beiden Ländern nach einem Krieg Regierungen zu etablieren, die den Ölbedarf des Westens zu angemessenen Preisen sichern würden. Der Krieg dauerte acht lange Jahre, der auch mit Waffenexporten aus Deutschland geführt wurde. Millionen Menschen starben. Irakisches Öl floss gleichzeitig ungehindert in den Westen und hielt den Ölpreis auf niedrigem Niveau stabil. Erst als im März 1988 die irakische Armee mit einem Giftgasangriff auf ein kurdisches Dorf im Norden des Irak 5000 Menschen vergasten, gingen Europa und die USA auf Distanz zu Hussein, woraufhin der Irak den Krieg am 8. August 1988 beendete. 

Doch Hussein und seine sunnitische Armee waren zu diesem Zeitpunkt schon soweit aufgerüstet, dass sie sich unschlagbar glaubten. Da sie um ihre vom Westen vorgesehene Rolle als Bollwerk gegen die Sowjetunion und als Schutzwall für den freien Zugang zum arabischen Öl wussten, befehligte Hussein seinen Baath-Partei Offizieren am 2. August 1990 genau jenes Land zu überfallen, dessen Sicherheit der USA besonders wichtig war: Kuwait. Der zweite Golfkrieg begann. US-Präsident Bush sen., gleichfalls Mitglied einer Öldynastie, konnte nun mit der hochgerüsteten US-Army der Welt mediengerecht zeigen, wie man die Welt beherrscht. Die irakische Armee wurde zurückgeschlagen. Nur Bagdad durfte nicht eingenommen werden, da das Mandat des UN-Sicherheitsrates lediglich die Befreiung Kuwaits vorsah. 

Erst als Saddam Hussein sich in der Weltpresse über den Anschlag auf die Zwillingstürme des World Trade Centers in New York am 11. September 2001 öffentlich freute, wurde sein Niedergang beschlossen. Am 20. März 2003 begann mit dem Einmarsch der USA und ihrer Verbündeten auf der Grundlage eines weiteren UN-Mandates der dritte Golfkrieg. Zur Begründung hieß es, man müsse Massenvernichtungswaffen im Irak finden und vernichten. Dass die US-Regierung unter Präsident Bush jr. den UN-Sicherheitsrat hinsichtlich der Existenz dieser Waffen getäuscht und belogen hatte, ist mittlerweile selbst vom US-Geheimdienstausschuss offiziell bestätigt. Die Glaubwürdigkeit von US-Präsidenten in der Weltgemeinschaft ist seither schwer beschädigt.

Die irakischen Wurzeln der IS-Milizen

Mit der Vernichtung der irakischen Armee im dritten Golfkrieg wurde auch Husseins Baath-Partei verboten. Es begann die Entmachtung der irakischen Regierung und auch die Auflösung aller irakischer Behörden. Den Alliierten gelang es aber nicht, anders als 1945 in Deutschland, neue staatliche Strukturen zu schaffen, die das Gemeinwesen der Iraker und Irakerinnen entwickeln konnten. Stattdessen glitt das Land in einen Zustand ohne funktionierende staatliche Strukturen ab. 

Die ehemaligen Offiziere der irakischen Armee, allesamt Sunniten und Anhänger der verbotenen Baath-Partei, verloren 2003, wie auch die sunnitischen Stämme, weitgehend ihren früheren Einfluss. Mit ihrer hochwertigen militärischen Ausbildung an westlichen Waffensystemen, organisierten sie einen militärischen Untergrund. Sie begannen das Land durch Bombenanschlägen zu destabilisieren, um die US-Army aus dem Land zu jagen. Beide Ziele waren schon nach wenigen Jahren erreicht. 

Im Untergrund hielt sich wohl auch die Vision, einen sunnitisch-islamistischen Staat zu errichten und wieder die Kontrolle über zumindest einen Teil des irakischen Öls zu übernehmen. Denn Öl ist jener Rohstoff, mit dem Waffen bezahlt und Herrschaftsstrukturen finanziert werden können. Mit ihrem militärischen Wissen gelang es den ehemaligen Baath-Partei Offizieren in den vergangenen Jahren die paramilitärischen Einheiten des sogenannten sunnitischen Islamischen Staates aufzubauen. Nach Schätzungen sind dies 30.000 bis 40.000 Soldaten mit einer professionellen, streng hierarchischen Organisationsstruktur, durchaus vergleichbar mit Armeen anderer Staaten der Region. 

Nach der schrittweisen Eroberung von kleineren und größeren Städten entlang der beiden Lebensadern des Irak, den Flüssen Euphrat und Tigris, durch die professionell agierenden IS-Milizen, fielen ihnen nach und nach auch die Kriegsgeräte in die Hände, die von den USA an die nach 2006 neu formierte irakische Armee gelieferten worden waren: hochmoderne Panzer, Artilleriegeschütze, gepanzerte Fahrzeuge und Maschinengewehre. Vermutlich aufgrund ihrer sunnitischen Verbindungen zu Scheichs auf der saudi-arabischen Halbinsel ist auch der Nachschub mit deutschen Maschinengewehren und Munition bis heute gewährleistet. Wird doch in Saudi-Arabien mit einer Lizenz der Bundesregierung das bei allen Armeen und Terrorbanden beliebte Maschinengewehr G3 produziert. Zudem ist Saudi-Arabien seit Jahrzehnten das Mekka der Waffenhändler – ob legal oder illegal. 

Die die IS-Milizen unterstützenden sunnitischen Stämme im Irak hoffen darauf, sich durch diesen Terror wieder die Rolle in der Region erkämpfen zu können, von der sie glauben, dass sie ihrer Geschichte angemessen sei: Sie wollen einen sunnitisch-islamistischen Staat, der unter Zuhilfenahme einer extremen Interpretation der Scharia ein mittelalterlich autoritäres Machtregime wäre. Der sunnitisch-islamistische Staat soll undemokratisch sein. Das Patriachat und die Geistlichkeit sollen als Herrschaftszentren zementieren werden. Der Ölreichtum des Landes soll einer feudalen Elite dienen. Der autokratisch herrschende sunnitisch-islamistische Staat soll Hegemonialmacht eines panarabischen Reiches werden, das die Ölquellen der Region kontrolliert und die Ungläubigen des Westens endlich bekämpft - statt ihnen Öl zu liefern. 

Waffen als Gegenleistung für den Zugang zum Öl

Schauen wir uns den Verlauf der Geschichte in dieser Region in Ruhe an, werden die Rollen Europas und der USA sichtbar: Unser aller Reichtum, der Wohlstand in Deutschland, Europa und den USA basiert auf dem ungehinderten Zugang zum arabischen Öl zu angemessenen Preisen. Wird dieser Zugang zum Öl behindert, sinkt der Wohlstand unmittelbar, weil Wirtschaft und Mobilität hauptsächlich auf Öl als Treibstoff basieren. Alle neuen, längst entwickelten Technologien zur Mobilität können sich bislang nicht durchsetzen, weil arabisches Öl viel zu preiswert ist. 

Die westlichen Regierungen der letzten Jahrzehnte haben die Aufrüstung der Armeen im Iran oder Irak, in Saudi-Arabien oder Libyen daher damit begründet, dass sie so den freien Zugang zum arabischen Öl sichern und die Preise stabil halten könnten. Selbst mit dem unzurechnungsfähigen Gaddafi wurden Verträge abgeschlossen, die nicht einmal das Papier wert waren, auf dem sie geschrieben waren. Vielen Diplomaten in auswärtigen Ämtern gilt die Verwirklichung von Menschenrechten eh als innenpolitische Angelegenheit, in die sich andere Staaten gefälligst nicht einzumischen haben. Dass damit gleichzeitig mörderische Regime gestärkt und stabilisiert wurden, die alle Menschenrechte mit den Füßen traten, wurde solange als unerheblich betrachtet, wie die damit verbundene Gewalt keine Gefahr für die westlichen Gesellschaften darstellte. 

Erst seitdem die durch westliche Waffen im Nahen Osten erzeugte Gewalt in Form von Terroranschlägen die westlichen Gesellschaften erschüttern – wir erinnern uns, dass Osama Bin-Laden aus Saudi-Arabien stammt - und damit den Alltag und die Ängste vieler Menschen erreichen, sind wir, die Öffentlichkeit in der EU und Nordamerika, sind unsere Regierungen an der Thematik interessiert. So bitter es klingt - dies ist einer der Erfolge von al-Qaida. Schauen wir aber genauer hin wird klar, dass wir im Grunde hilflos vor dem Scherbenhaufen unserer eigenen Waffenpolitik stehen, die wir alle bislang mehr oder weniger schweigend akzeptiert haben. Fahren wir damit weiter fort, wird sich die Gewaltspirale weiter drehen, und wir werden diese Gewalt bald zu Hause hautnah erleben. 

Militärdiktaturen vermehren den Hass in der Region 

Neben dem Irak und Iran sind noch zwei weitere Staaten in der Region von Bedeutung, um die Ursachen des IS-Terrors zu verstehen - Syrien und die Türkei:

Bis 1918 war für fast 400 Jahre das arabische Syrien Teil des türkisch-stämmigen Osmanischen Reiches. Trotz vieler früherer, meist jedoch misslungener Aufstände gegen die Herrscher in Konstantinopel ergab sich für die arabische Bevölkerung Syriens erst im Ersten Weltkrieg eine realistische Chance, einen vom Osmanischen Reich unabhängigen Staat Syrien zu errichten. Sie schlugen sich damals auf die Seite der britisch-französischen Entente, die während des Ersten Weltkrieges gegen die noch existierenden Reste des osmanischen Reiches zu Felde zog. Großbritannien sagte dem Haschemiten-Prinzen Faisal als Gegenleistung für den Kampf der Syrer gegen die Türken die Schaffung eines freien Syrien zu. Doch die Hoffnung, schon bald ein neues Königreich Syrien etablieren zu können, wurde durch das Veto Frankreichs enttäuscht, das das Völkerbundmandat für Syrien und den Libanon hielt. Erst nachdem das französisch-syrische Protektorat auch im Zweiten Weltkrieg auf der Seite der Alliierten gekämpft hatte, wurde im Rahmen der Neuordnung der Staaten durch die Alliierten des Zweiten Weltkrieges am 17. April 1946 die neue Syrische Republik ausgerufen wurde. 

Neben Syrien wurden damals weitere arabische Staaten gegründet. Neue Grenzen wurden von der Verwaltern der Protektorate am Reißbrett gezogen, was darauf hinweist, dass Grenzen nie stabil und fast immer willkürlich sind. Schon bald wollten die sunnitisch arabischen Eliten in Syrien und Jordanien, Libanon und Ägypten diesen politischen Frühling dafür nutzen, einen panarabisch-sunnitischen Staat zu gründen, der von der Türkei bis hinunter nach Ägypten reichen sollte. Dieses Ziel schien am 1. Februar 1958 mit der Gründung der Vereinigten Arabischen Republik, der zunächst Ägypten und Syrien angehörten, greifbar nahe zu sein. Doch die Angst des Westens vor einem großen panarabisch-sunnitischen Staat, der womöglich den jungen, von Arabien ungeliebten Staat Israel angreifen und große Teil des arabischen Öl kontrollieren würde, veranlassten die USA und Großbritannien mit militärischen und sonstigen Interventionen getreue Regierungen in Beirut und Amman zu etablieren. Die Idee einer Vereinigten Arabischen Republik wurde dadurch erfolgreich sabotiert. 

In dieser Gemengelage putschte 1961 die syrische Baath-Partei unter der Führung von Hafiz al-Assad, dem Vater des heutigen syrischen Diktators Baschar al-Assad. Der zur alawitischen Minderheit gehörende Assad-Clan diktiert seither die Politik Syriens in dynastischer Weise. Sie spielten das Spiel der Verstaatlichung der syrischen Ölquellen und hofften gleichzeitig als Partner zur Sicherung westlicher Ölinteressen anerkannt zu werden; hatte doch der Westen die Gründung der Syrische Republik erst ermöglicht. Da sich jedoch auch der historische Erzfeind, die neugegründete Türkei, dem Westen zuwandte, schlug sich das Assad Regime auf die Seite der Sowjetunion, die seither eine wesentliche Einflussgröße in der Region ist. Als Gegenleistung für die Unterstützung des Assad-Clans betreibt sie einen Stützpunkt ihrer Marine und hat so auch einen militärischen Zugang zum Mittelmeer. 

Die Sowjetunion und in der Nachfolge Russland rüstete das syrische Regime mit Waffen auf. Genauso systematisch, wie der Westen fast zeitgleich den Iran und Irak aufgerüstete. Das Assad-Regime kontrollierte und unterdrückte mit Hilfe dieses Waffenarsenals die sunnitische Mehrheitsbevölkerung fast fünfzig Jahre lang. Hier liegt eine der Ursachen für den abgrundtiefen Hass der syrischen Sunniten gegen das Assad-Regime, der sich während der vergangenen Jahrzehnte meist in einfachen Protesten entlud, bis er vor drei Jahren in einen Bürgerkrieg umschlug. Seither kämpft die sunnitische Mehrheit des Landes in verschiedenen Formationen gegen den alawitischen Clan. Bereits über 200.000 Menschen sind gestorben, und vermutlich werden es noch mehr. Denn mit der Unterstützung der IS-Milizen durch die syrisch-sunnitischen Stämme hat der Hass gegen das Assad-Regime ein Ventil gefunden, dem nun auch andere Nicht-Sunniten zum Opfer fallen. Aus der Perspektive der syrisch-sunnitischen Stämme bleibt die Gründung eines sunnitisch-islamistischen Staates ein anzustrebendes Ziel. 

Der Traum vom großsunnitischen Reich

Den Untergang des über 400-jährigen großtürkischen Osmanischen Reiches haben viele konservativ-sunnitischen Politiker der Türkei seit 1923 sicherlich nicht überwunden. Ihr Reich erstreckte sich einstmals vom Balkan über Griechenland und der heutigen Türkei, über die Länder des Nahen Ostens und Ägyptens, bis hin nach Libyen und Tunesien und war in dieser Hinsicht dem Römischen Reich durchaus vergleichbar. Es war ein aus Konstantinopel regiertes sunnitisches Kalifat, ein Königreich, das dem sunnitischen Glauben angemessen schien. Die heutigen Konflikte in diesen Regionen können daher auch als Nachbeben des Untergangs dieses Osmanischen Reiches verstanden werden. Beispielsweise basiert die breite Unterstützung der türkisch-sunnitischen Regierungspartei AKP durch die türkische Bevölkerung trotz einer Politik, die die Menschenrechte grob missachtet, zum großen Teil auf dem Wunsch, die Türken mögen wieder eine regionale Herrschaft erlangen. 

Nach dem endgültigen Untergang des Osmanischen Reiches 1918 konnte Mustafa Kemal, dem posthum der Beiname Atatürk (Vater der Türken) verliehen wurde, erst nach einem Befreiungskrieg gegen die westlichen Alliierten 1923 die neue Türkei in seinen heutigen Grenzen gründen. Seine 1915 gewonnene Schlacht auf den Dardanellen gegen die westliche Entente, die sogar zum Rücktritt des damaligen Ersten Lords der britischen Admiralität und späteren Premierministers Winston Churchill führte, hat ihn in der Türkei legendär gemacht. Kemal regierte die neue Türkei mit militärischer Gewalt und setzte dabei die Trennung von Staat und Religion gewaltsam ebenso durch, wie die Emanzipation der Frau, das Verbot der Verschleierung und die Verdrängung der Geistlichkeit aus den Machtzentren der Gesellschaft. Als militärisch erfolgreicher Offizier glaubte er an die Durchsetzungskraft der Autorität, die seiner Auffassung nach auch für die Überwindung feudaler Gesellschaftsstrukturen notwendig sei. 

Obwohl Kemal im Ersten Weltkrieg an der Seite der habsburgisch-preußischen Allianz kämpfte und der Entente des Ersten Weltkrieges schwere Niederlagen beigebracht hatte, blieb das Land nach seinem Tod 1938 auf Distanz zu den faschistischen Regimen in Deutschland und Italien, wodurch die junge Türkei im Zweiten Weltkrieg zum Verbündeten der neuen westlichen Alliierten avancierte. So konnte die USA über türkische Häfen die Sowjetunion mit Waffen für den Kampf gegen Nazi-Deutschland versorgen. 

Trotz dieser Nähe zum der Freiheit verpflichteten Westen, blieb die Türkei auch nach dem Zweiten Weltkrieg eine Militärdiktatur. In der Nachkriegszeit nutzte sie ihre geographische Lage, um die USA im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion zu unterstützen. Die Stationierung von US-Atomraketen 1960/61 in der Türkei vis-à-vis zur Sowjetunion war wesentlicher Anlass für die Stationierung russischer Atomraketen auf Kuba, was wiederum zu jener Krise führte, die die Welt für wenige Tage in den Abgrund eines möglichen atomaren Dritten Weltkriegs schauen ließ. So ist es nicht verwunderlich, dass die Türkei seit den 1950er Jahren durch den Westen systematisch aufgerüstet wurde. Heute stellt sie die zweitgrößte Armee der NATO. Es scheint, dass während der vergangenen Jahrzehnten der Westen glaubte, die türkische Armee durch Einbindung in die NATO kontrollieren zu können. Dass dies eine grobe Fehleinschätzung war, wird daran deutlich, wie intensiv zwischen Ankara und Washington über den Umfang der Nutzung US-amerikanischer Militärbasen in der Türkei gerungen wird. 

Neben den Armeniern, die im Zuge des Untergangs des Osmanischen Reiches fast vernichtet worden sind, leiden die Kurden, die in der Türkei sowie im Norden Syriens und des Irak leben, seit Jahrhunderten besonders unter der türkischen Gewaltherrschaft. Es ist nicht schwer vorherzusagen, dass ein möglicher Zerfall der mehrheitlich sunnitischen Türkei durch den Versuch der Gründung eines Kurden-Staates mit großem Blutvergießen verbunden wäre. Jede türkische Regierung würde alles unternehmen, um dies zu verhindern. Denn mit der Gründung eines unabhängigen Kurdistan würde die Türkei über ein Drittel ihres heutigen Staatsgebietes verlieren. Hierin liegt vermutlich der tiefere Beweggrund, warum die türkische Armee an der türkisch-syrischen Grenze mit fast offener Freude zuschaut, wie IS-Milizen die kurdische Bevölkerung im Norden Syriens abschlachten und der Vize-Chef der türkischen Regierungspartei AKP erklärt: „In Kobane drohe keine Tragödie. In Kobane kämpfen nur zwei Terrororganisationen [die IS gegen die kurdische PKK] gegeneinander.“ Er verstehe nicht, warum die ganze Welt sich plötzlich für Kobane interessiere.[2] 

Ankara scheint die Strategie zu verfolgen, dass, wenn erst einmal die Kurden durch die sunnitischen IS-Milizen beseitigt worden sind und sich das alawitische Assad-Regime in Syrien nicht mehr halten kann, die Türkei mit Hilfe ihrer NATO-Partner das politische Vakuum in Damaskus ausfüllen könnte. Hierdurch würde sich im Sinne der Falken der Einfluss Russlands in der Region verringern und der westlich Zugang zu Teilen des arabischen Öls verbessern. Aus dieser Perspektive würde Syrien, mit Hilfe der NATO, wieder Teil eines türkisch-sunnitischen Einflussgebietes, in dem gemäßigte sunnitische Führer der Türkei und Syriens eine gemeinsame Politik betreiben könnten. Langfristig könnte diese Zusammenarbeit so intensiv werden, dass sie emotional einer Wiederbelebung des sunnitisch-osmanischen Kalifats entspräche, wodurch in den Augen der Türken die Schmach von 1918 endlich kompensiert wäre. 

Solche Überlegungen  sind natürlich Spekulationen, doch wissen wir aus der deutschen Geschichte, dass einst die vermeintliche Schmach von Versailles die national-sozialistischen Entwicklungen beflügelt haben. Und auch der Westen könnte ein Interesse an einem starken türkisch-sunnitischen Einflussgebiet haben, würde eine solche Türkei doch die Rolle eines Schutzwalles zur Sicherung des ungehinderten Zugang zu den regionalen Ölquellen für den Westen übernehmen können. Derartige Gedankenspiele weisen uns auf mögliche Motive hin, warum politisch Verantwortliche in Ankara so handeln, wie sie handeln, allem Anschein nach IS-Milizen logistisch unterstützend das Leid vieler Millionen Menschen in Kauf nehmen. 

Waffen und Öl nähren das nahöstliche Feuer des Krieges

Sicherlich sind die Zusammenhänge noch viel komplexer, als dies hier in aller Kürze dargestellt werden kann. Die Rollen Jordaniens, Libanons, Israels, Saudi-Arabiens und anderer Golf-Emirate sowie die Verwicklungen der palästinensischen Gruppen bedürfen einer genaueren Analyse, um deren Verbindungen zum Entstehen der IS-Milizen zu erkennen. Dennoch lässt sich bereits aus den kurzen Beschreibungen ablesen, welche Brandmaterialien die scheinbar nicht Enden wollenden Kriege im Nahen Osten befeuern:

A) Die sunnitischen Herrschaftsansprüche in der Region sind eindeutig und klar sichtbar, ob in Ankara, Riad oder bei den sunnitischen Stämmen in Syrien oder im westlichen Irak. Die IS-Milizen der ehemaligen irakischen Armee sind aus der Perspektive der regionalen Sunniten willkommene Instrumente, um die vom Westen nach dem Ende der beiden Weltkriege etablierten Staatsstrukturen und Grenzen endlich zu verändern. Wie in allen autokratischen Gesellschaftsformen werden diese Herrschaftsinteressen von nur wenigen dynastischen Familien und Stämmen betrieben, denen die Würde und das Leben der einfachen Menschen wie eh und je weitgehend gleichgültig ist. 

B)  Die Mittel zur Durchsetzung dieser Herrschaftsansprüche sind – wie in fast allen Teilen der Welt – Rohstoffe und Waffen. Der Rohstoff Öl verspricht riesigen  Reichtum und zieht - wie ein Magnet Eisen – Autokraten und Diktatoren in fast allen erdölfördernden Ländern der Welt an. Alle in der OPEC organisierten Staaten, sind autokratische oder militärdiktatorische Regime. Der OPEC gehört kein Staat an, der als demokratisch zu bezeichnen wäre. Auch die Regierungen in anderen großen nicht-westlichen erdölfördernden Länder wie Mexiko, Brasilien, Russland und Indonesien sind von Korruption durchsetzt und weit davon entfernt, den Ölreichtum ihrer Länder der jeweiligen Bevölkerung durch demokratische Gesellschaftsstrukturen zugutekommen zu lassen. Warum sonst ist die Armut in diesen reichen Ländern so groß? Selbst in den US-amerikanischen ölfördernden Staaten wie Texas kaufen Ölkonzerne kurz vor Abstimmungen im Parlament ganz offen die Stimmen von Abgeordneten mit dem Scheckbuch, wenn diese über Umweltschutzauflagen, Steuergesetze oder andere Maßnahmen abstimmen, die Gewinne schmälern könnten. Krieg und Gewalt, Korruption und dynastische Gesellschaftsformen sind offensichtlich mit erdölbedingtem Reichtum unmittelbar verbunden. Die unfassbare Dimension eines erzielbaren Gewinns ist für den menschlichen Geist vermutlich unerträglich. 

C)  Doch auch wir, als Bürgerinnen und Bürger eines wirtschaftlich erfolgreichen Landes, müssen unsere Anteile an dem von den IS-Milizen erzeugten Leid betrachten: Unsere Regierungen, ob in Deutschland oder anderen westlichen Staaten, haben in den vergangenen Jahrzehnten unseren Zugang zum Öl dadurch bewerkstelligt, dass sie diktatorische und korrupte Regime mit Waffen beliefert haben. Die Sicherung des Öls ist seit dem Öl-Schock 1972 zur politischen Priorität geworden, die offensichtlich einen höheren Stellenwert hat, als der in der deutschen Verfassung seit 1949 festgelegt Schutz der Menschenrechte. Die durch Waffenexporte erzeugten politischen Instabilitäten werden vielleicht sogar mit dem Kalkül akzeptiert oder herbeigeführt, dass instabile Regierungen sich leichter lenken lassen, da ihre Herrschaft von Waffenlieferungen abhängig sind. Insofern haben wir als waffenexportierende Staaten die Gewalt in diesen Länder mindestens gefördert, wenn nicht gar erzeugt. In diesem Sinne sind die weltweit zunehmenden islamistischen Gewalttätigkeiten eine Wirkung unserer vergangenen, waffenliefernden Handlungen - ganz dem karmischen Gesetz folgend, dass wir immer das Echo unserer vergangenen Handlungen hören werden. Weitere Waffenlieferungen verstärken nur diese Gewalt, statt sie zu bändigen.

D)  Sind aber großen Mengen an Waffen in einer Gesellschaft vorhanden, sterben immer Tausende durch deren Gebrauch. Denn Waffen werden zum Zwecke des Tötens hergestellt. Am deutlichsten ist dies in den USA zu beobachten: Aufgrund des freien Zugangs aller US-Bürger und Bürgerinnen zu Waffen, die man sogar in Supermärkten kaufen kann, sterben in den USA jährlich über 30.000 Menschen durch Schusswaffengebrauch. In den USA sind seit dem Zweiten Weltkrieg mehr Menschen an inländischem Schusswaffengebrauch gestorben, als US-Soldaten in ausländischen Kriegen.[3] Alleine das Vorhandensein großer Mengen Waffen im Nahen Osten provoziert die brutalen Bürgerkriege und auch die Massaker durch die IS-Milizen. Insofern trägt jeder Waffen herstellende und in diese Region liefernde Staat – und damit auch wir als Bundesrepublik Deutschland - eine Verantwortung für die viel zu vielen Toten in der Region. 

Humane Politik basiert auf der Gleichwertigkeit aller Menschen

Nach dieser traurigen Analyse stellt sich die Frage, was zu tun ist, um dieses Elend zu beenden. Bei seinem Besuch am 24. August 2014 in Hamburg betonte der Dalai Lama bei der Betrachtung dieser Frage, dass niemand in der Lage sei, die Ursachen für aktuelle Konflikte zu beseitigen, da diese stets in einer Vergangenheit erzeugt wurden, und weil jede Vergangenheit grundsätzlich abgeschlossen und unveränderbar ist. Getan ist getan und unverrückbar.[4]  

Dieser klare Blick auf die Wirklichkeit scheint sich zunächst fatalistisch anzuhören und mag bei manchen Ablehnung erzeugen - hegen doch alle Menschen den Wunsch nach Frieden. Doch trotz oder wegen der zunächst erschütternd einfachen Einsicht über die Abgeschlossenheit der Vergangenheit, wies der Dalai Lama auch darauf hin, dass gerade in dieser Wirklichkeit schondie Hoffnung für eine friedliche Zukunft angelegt ist. Schauen wir uns seine  Argumentation an: 

a) Jede in der Vergangenheit erzeugte Ursache hat eine Wirkung. Und: Die Qualität einer Wirkung entspricht immer der Qualität ihrer Ursachen. 

b) Verwirklichen sich Wirkungen, verlieren die spezifischen Ursachen ihre Wirksamkeit. Die Energie für Leid verschwindet, wenn sie durch neue schädigende Ursachen nicht erneuert wird.

c) Heute, in der Gegenwart, die schon im nächsten Moment Vergangenheit sein wird, können wir neue friedliche Ursachen für eine zukünftig friedlichere Welt erzeugen, in dem wir die Ursachen für Kriege erkennen und vermeiden. 

d) Dämpfen wir zusätzlich die Wirkung vergangener, schädigender Ursachen, verstärken wir die Wirksamkeit der heilsamen, Frieden erzeugenden Ursachen.

In diesem Sinne, so betonte der Dalai Lama, trägt jeder und jede Einzelne von uns die Verantwortung und das Potenzial, eine friedlichere Welt zu gestalten. Es ist ein wesentlicher Aspekt unseres Mensch-seins, dass wir mit anderen Menschen friedlich und in Kooperation leben wollen. „Denken Sie darüber nach!“, rief er den Zuhörenden am 24. August mehrmals zu, „denn nur Sie können diese Änderung herbeiführen.“

Die moderne Anthropologie hat vielfach nachgewiesen, dass Kooperation eine der entscheidenden Fähigkeit der Menschheit ist, wodurch wir evolutionär erfolgreich waren.[5] Es war nicht der alleine durch die Savannen streunende, keulenschwingende Egomane, der den Fortschritt der Spezies Mensch ermöglichte. Egomanen haben viel zu wenig Fantasie, um Räder und andere Werkzeuge zu erfinden. Dies gelingt nur, wie wir heute in allen Forschungseinrichtungen der Welt beobachten können, durch Teamarbeit auf der Basis kooperativer Kommunikation. Kooperation und nicht Kampf ist der Modus der evolutionär erfolgreichen Menschheit.

Die Kooperationsfähigkeit des Mensch wiederum basiert auf der universellen Einsicht, dass alle Menschen gleichwertige Wesen sind. Gleichwertigkeit ist keine intellektuell oder religiös abgeleitete Moral, sondern Teil unseres Menschen-seins. Nur als gleichwertige Individuen, die kooperieren und dabei Aufgaben und Rollen verteilen, können wir die verschiedenen Fähigkeiten jedes und jeder Einzelnen optimal nutzen. Auf dieser Basis sind wir als Menschheit bislang so erfolgreich. [6] Die Anerkennung der Gleichwertigkeit aller Menschen, die wir auch als die Unantastbarkeit der Würde jedes Menschen in unserer Verfassung bezeichnen, ist eine der wichtigen, grundlegenden Ursachen für das friedvolle Zusammenleben von Menschen: Denn wer möchte schon von anderen als minderwertig betrachtet werden? Niemand! 

Indem jeder und jede Einzelne und wir alle gemeinsam die Verantwortung für den Schutz der Würde jedes Menschen übernehmen und damit heilsame Ursachen für den Frieden erzeugen, indem wir dadurch – wie es in der buddhistischen Sprache heißt – heilsame karmische Samen aussäen, wird Frieden auch im Nahen Osten möglich sein. Diese Verantwortung zu übernehmen ist eine täglich Aufgabe für jeden und jede von uns. Tun wir dies nicht, bleibt jede Klage über die Unmenschlichkeit der IS-Milizen oder anderer Armeen nur moralisches Gejammer, das weder glaubwürdig noch positiv wirksam ist. 

Humanismus entfalten

Doch was können wir als westliche Staatengemeinschaft in Europa und den USA, als Menschen in Deutschland und anderen Ländern konkret tun, damit die Gleichwertigkeit der Menschen im Nahen Osten sich entwickeln und wieder gelebt werden, dass Humanismus im positiven Sinne des Wortes sich wieder entfalten kann? Denn jede These, auch die des Dalai Lama, muss sich an den Möglichkeiten der Wirklichkeit messen lassen:

I.  Zu allererst und als oberste Priorität ist es erforderlich, dass wir den Menschen in dieser Region helfen, sich vor Gewalt und Krieg zu schützen. Doch dies gelingt, wie wir nach zehn Jahren militärischem Einsatz in Afghanistan schmerzhaft lernen müssen, nicht durch Waffengewalt. Das  Feuer der Gewalt kann durch militärische Maßnahmen nicht gelöscht werden, weil Gewalt immer mit der Verletzung der Würde und der Gleichwertigkeit der Menschen verbunden ist. Gewalt erzeugt beständig Gegengewalt. 

Vielmehr ist es notwendig, dass wir die Menschen der Region aus den Kampfzonen herausholen und den flüchtenden Menschen ein Obdach bieten. Das UN-Flüchtlingshilfswerk schätzt, dass ca. 4-6 Millionen Menschen aus Syrien und dem Irak auf der Flucht sind. Vermutlich werden es noch viele mehr werden. Flucht ist ein großes Leid für die betroffenen  Menschen. Doch es gibt auch einen positiven Aspekt, den zu bedenken sich lohnt: Menschen, Familien und ihre Kinder, die nicht mehr unter dem Regime der IS-Milizen leben müssen, haben die grundsätzliche Chance, ihre Würde an anderen Orten der Welt wieder leben zu können. Zudem entziehen sie mit der Flucht den IS-Milizen dasjenige, worauf Herrschaft grundsätzlich basiert: unterdrückte und leidende Menschen. Alle, die das Ende der IS-Milizen tatsächlich erreichen wollen, alle an den Werten des Humanismus orientierten Staaten, insbesondere Europa, sind daher gefordert, diesen Menschen genau diese Chance auf ein menschenwürdiges Leben zu geben, und nicht nur ein Scheckbuch zu zücken. 

II.  Was können wir also konkret tun, scheint doch der Flüchtlingsstrom nach Europa für uns zu groß zu sein? Um diese Frage zu beantworten, können wir aus der deutschen Geschichte lernen: Nach dem Zweiten Weltkrieg flüchteten über zehn  Millionen Menschen in den vielfach zerstörten westlichen Teil  Deutschlands. Sie wurden integriert und haben dieses Land mit gestaltet und geschaffen. Die grundlegenden Maßnahmen damals waren einfach, weil andere Hilfsmittel nicht zur Verfügung standen. Wie heute erhielten die Vertriebenen zunächst Nahrung und Unterkunft als erste Notmaßnahme. Doch der wesentliche Unterschied zu heute bestand darin, dass den Flüchtenden geholfen wurde, sich selbst zu helfen. Ihnen wurden Land, Saatgut und Baumaterialien zur Verfügung gestellt. Sie bauten schon bald ihre Lebensmittel an und ihre Häuser auf. Sie nutzen ihre beruflichen Fähigkeiten und produzierten Dinge, um einander wechselseitig und auch der westdeutschen Bevölkerung zu helfen. Dies wiederum beflügelte die Wirtschaft und es entstand das Wunder des Wiederaufbaus. Denn es gilt eine einfache ökonomische Weisheit, die heute allzu oft vergessen wird: Wo Menschen leben, entsteht immer und unmittelbar eine neue, wachsende Wirtschaft, wenn diese Menschen ihre Arbeitskräfte teilen dürfen. Wirtschaften ist nichts anderes, als die je individuellen Fähigkeiten mit anderen zu teilen und entsprechende Produkte und Dienstleistungen auszutauschen. 

Wir sollten daher den flüchtenden Menschen aus Syrien, dem Irak oder anderen Krisenregionen die gleichen Möglichkeiten geben, wie dies den Vertriebenen des Zweiten Weltkrieges zuteil wurde. Geben wir ihnen Land, Saatgut und Baumaterialien, beispielsweise in den von Landflucht bedrohten Regionen Deutschlands, Frankreichs, Italiens, Spaniens und vielen anderen Regionen Europas. Ermöglichen wir Ihnen, dass sie mit ihren individuellen Fähigkeiten arbeiten, dann werden diese Menschen eine neue wachsende Wirtschaft aufbauen. Jede Investition in diese Hilfe zur Selbsthilfe wird sich auch ökonomisch zu einem riesigen Gewinn für die gesamte europäische Gesellschaft entwickeln. 

Gleichzeitig werden sie dabei ihre Würde wieder fühlen. Wie damals braucht es übergangsweise Unterkünfte und Lebensmittel, bis die ersten Ernten möglich und die ersten Häuser gebaut sind. Aber wir müssen anerkennen: Die zu uns flüchtenden Menschen sind fähige, kompetente, gleichwertige Mitmenschen, mit Ausbildung und Berufen und mit einem starken Überlebenswillen. Sie in unsere Gesellschaften zu integrieren wird das Leid, das wir durch unsere Waffenlieferungen in ihren Ländern erzeugt haben, etwas verringern helfen. Sie werden unser Land, unser Europa befruchten und alle gemeinsam werden wir freie, gleichwertige Bürger und Bürgerinnen eines Europa sein, in dem die Würde jedes Menschen unantastbar bleibt.

Daher brauchen wir in Europa oder Deutschland keine Quoten für ein paar hundert Tausend Flüchtlinge. Anstelle der aktuellen bürokratischen Verwaltung von Flüchtlingen in Lagern, die auch noch von brutalen Sicherheitsdiensten bewacht werden, ist es sinnvoller, den Millionen flüchtenden Menschen freudig die Möglichkeiten zu geben, ihre Arbeitskräfte und ihren Lebenswillen entfalten zu können. Rückläufige Bevölkerungsentwicklungen und schrumpfende Wirtschaftskraft, Fachkräftemangel und Pflegenotstand werden der Vergangenheit angehören. Wir alle werden damit ganz Europa bereichern. 

Die neuen Mitbürgerinnen und Mitbürger werden zudem die Wurzeln dafür sein, dass Gleichwertigkeit auch im Nahen Osten eines Tages gelebt werden kann. Denn wenn die Waffen aus dem Nahen Osten verschwunden sind, werden sie, ihre Kinder oder Enkel teilweise zurückgehen in ihre Heimat, die niemand gerne verlässt. Sie werden die Würde des Menschen als höchstes Gut ansehen, da sie dies bei uns durch unsere Hilfe wieder erfahren durften. Dann kann eines Tages in der Verfassung eines arabischen Staates geschrieben stehen, was sie in Europa nicht nur in einer Charta lesen, sondern auch praktisch erfahren haben: Die Würde des Menschen ist unantastbar! 

III.  Des Weiteren ist es erforderlich, dass die Bestrebungen der dem sunnitischen Glauben angehörigen Menschen nach einem oder mehreren Staatengebilden von der Weltgemeinschaft anerkannt werden. Es kann nicht sein, dass wir aus Sorge um unseren Zugang zum arabischen Öl, die Bestrebungen zu einem sunnitischen Staatengebilde militärisch verhindern. So wie wir im jüdisch-christlichen Westen uns selbst zunächst in Fürstentümer und Königreichen, dann in Nationalstaaten und schließlich supranationalen Vereinigungen (USA und EU) organisieren, so haben die Menschen in anderen Regionen mit anderen Religionen das Recht, sich entsprechend ihrem freien Willen zu organisieren. 

Um menschenverachtende Strukturen von Königreichen, Kalifaten  oder anderen feudalen oder autokratischen Gesellschaftsformen zu verhindern, ist eine Beteiligung breiter Bevölkerungsschichten an diesem Organisationsprozess in demokratischer Weise auf der Basis der Unantastbarkeit der Würde jedes und jeder Einzelnen notwendig. Dies wird sicherlich viele Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Doch es ist der vermutlich einzige Weg zum Frieden, weil dieser immer nur auf der Anerkennung der Gleichwertigkeit aller Menschen wachsen kann. 

Solche Willensbildung braucht vielfältige Instrumente wie die Bildung von Parteien, die Meinungs- und Pressefreiheit bis hin zu Abstimmungen über Parlamente und Grundsätze der Politik. Dass diese demokratische Vorgehensweise trotzdem noch das Risiko einer menschenverachtenden Politik birgt, wurde anhand der demokratisch gewählten Muslimbrüder in Ägypten oder den Verwirrungen in Libyen in den vergangenen Jahren sichtbar.

IV.  Was ist also zusätzlich zu berücksichtigen, um der Demokratie auch in Arabien zu ihrer positiven Wirkung zu verhelfen? Die Entwicklung der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland ist ein positives Beispiel dafür, wie eine demokratische Gesellschaft selbst aus einer nationalsozialistisch geprägten hervorgehen kann. Mit der Verankerung einklagbarer Grundrechte in der Verfassung, allen voran die Unantastbarkeit der Würde jeder Person, wurde die demokratische Organisation der Bundesrepublik Deutschland gegen Gewalt immunisiert. Die darauf basierende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes hat seither sichergestellt, dass jedweder durch den Bundestag oder eine Regierung lancierte Rückfall in autoritäre Staatsstrukturen, beispielsweise mit dem Berufsverbot für andersdenkende Menschen im öffentlichen Dienst in den 1970er Jahren, angemessen korrigiert wurde.

Allerdings war der Start zu diesem demokratischen Rechtsstaat ein durchaus  undemokratischer Akt der Besatzungsmächte. Denn hätte es einen von den Besatzungsmächten unkontrollierten Aufbau von Parteien und Medien gegeben, wären nationalsozialistische Kräfte sicherlich wieder an die Regierung gekommen. Es gab ja keine neuen Menschen nach dem Krieg in Deutschland. Es lebten die gleichen hier, die nur wenige Jahre zuvor dem Endsieg zugejubelt hatten. So war die Suche der Besatzungsmächte nach nicht belasteten Politikern und Politikerinnen, Juristen und Juristinnen, nach Publizierenden und nach Menschen in vielen anderen Berufsfeldern, die für den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind, nicht einfach und auch nicht immer erfolgreich. Viel zu oft haben sich alte Nazis in wichtige Bundesministerien eingeschleust, wurden gar Ministerpräsidenten oder Bundeskanzler und waren in vielfacher Hinsicht eine Gefahr für die noch junge Demokratie. Doch zum Glück gab es den Protest der Medien, wie nach der Spiegelaffäre 1962, oder den Protest der 1968er, die die Demokratie in den Herzen und Gedanken der Menschen verankerten. 

1947 gelang es den Besatzungsmächte einen visionären Parlamentarischen Rat zur Erarbeitung einer neuen Verfassung der Bundesrepublik Deutschland zusammenzubringen. In den Diskussion zwischen den knapp sechzig  Mitgliedern wurde schon früh sichtbar, dass Freiheit allein keine ausreichende Bedingung für eine würdevolle Gesellschaft ist.[7] Erst die Unantastbarkeit der gleichwertigen Würde jeder einzelnen Person – unabhängig von Geschlecht, Religion, Hautfarbe, sexuellen oder sonstigen Neigungen - und dessen Absicherung als einklagbares Grundrecht kann sicherstellen, dass der Aufbau von Parteien, die Wahl von Parlamenten und andere demokratische Prozesse den Bedürfnissen der Menschen und nicht irgendwelchen Ideologien oder Herrschaftsgruppen dienen. 

Gelingt es, die Unantastbarkeit der Würde des Menschen in den Verfassungen der neu zu strukturierenden Staaten des Nahen Ostens und Nordafrikas zu verankern, dann kann auch dort Frieden gedeihen. Denn: „Die Menschenwürde bildet gleichsam das Portal, durch das der egalitär-universalistische Gehalt der Moral ins Recht importiert wird. Die Idee der menschlichen Würde ist das Scharnier, welches die Moral der gleichwertigen Achtung für jeden und jede mit dem positiven Recht und der demokratischen Rechtssetzung zusammenfügt.“[8] 

Die Ausübung von Waffengewalt, die Unterdrückung von Bevölkerungsgruppen, die Verachtung von Frauen, Homosexuellen und anderen, die Lieferung von Waffen zum Schutz des eigenen Wohlstandes sind nicht mit der Würde des Menschen vereinbar. Gelingt diese Transformation und auch der Aufbau entsprechender rechtsstaatlicher Strukturen, die die Unantastbarkeit der Würde jeder Frau und jedes Mannes, jedes Kindes und jeder anderen Person gewährleistet, dann entwickeln sich in Jahrzehnten friedliche Gesellschaften – selbst aus den Trümmern autoritärer Gesellschaften.

Auf dieser Basis kann eines Tages in Arabien und Nordafrika selbst der Traum von einer demokratisch-panarabischen Union, ähnlich der EU, Wirklichkeit werden. Die Unantastbarkeit der Würde jedes Menschen ist die wesentlichste Grundlage für das Zusammenleben von Menschen in jeder Gesellschaftsform. Sie ist die Basis für jedwede gewaltfreie Strategie, mit der der Nahe Osten friedlich gestalten werden kann. 

Entmilitarisierung ist eine notwendige Bedingung für Frieden

In seiner Rede 1998 in Oldenburg über die Frage „Was ist Frieden?“, erläuterte der Dalai Lama die große Bedeutung des Verbots des Waffenhandels für den Weltfrieden. Er sagte damals: „Ein wichtiger Schritt zur Erreichung eines äußeren Friedens ist die Unterbindung des Waffenhandels. Der Handel mit Waffen ist höchst verwerflich, weil er die Voraussetzungen für das Töten von Menschen ganz konkret und unmittelbar schafft. Es ist nicht zu rechtfertigen, dass sich einige Länder am Verkauf von Waffen bereichern und glauben, dadurch ihre Wirtschaft zu fördern, während Menschen in anderen Teilen der Welt durch diese Waffen sterben.“  Wenn Regierungen Waffenexporte in die Türkei, den Nahen Osten oder in andere Krisenregionen mit dem Argument der Arbeitsplatzsicherung genehmigen, dann ist dies aktive Beihilfe zu Mord und Terror. Waffen sind die Schmierstoffe für Gewalt und Herrschaft. Sie sind die Nahrung, die wir dem Feuer entziehen müssen, damit die Erde im Nahen Osten - und auch anderen Teilen der Welt - nicht mehr weiter brennt. 

Aus den Beschreibung der historischen Entwicklungen im Nahen Osten lernen wir, dass die Aufrüstung der Region eine der Hauptursachen für die existierende Kriege und für das Entstehen der IS-Milizen ist. Die Konsequenz hieraus ist die vollständige Entmilitarisierung der Region. Sie ist der entscheidende, realpolitische Eckpfeiler, um den Terror der IS-Milizen zu beenden. Solange schwere und leichte Waffen, ob Panzer oder Maschinengewehre, in der Region vorhanden sind, werden illegale Milizen, legale Staaten oder Stämme mit regionalem Herrschaftsstreben diese Waffengewalt nutzen, um ihre Ansprüche zur Herrschaft durchzusetzen - und beschädigen dabei täglich die Würde des Menschen. 

Die historischen Erfahrungen mit der Entmilitarisierung einer ganzen Region sind begrenzt. Doch auch hier bieten die Erfahrungen über die politischen Entwicklungen in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg eine gute Grundlage: Die Entmilitarisierung Deutschlands basierte auf der gemeinsam Auffassung der Alliierten, dass jede Wiederbewaffnung Deutschlands den Frieden in Europa gefährden würde. Deshalb wurden nur die Parteien und Politiker in Westdeutschland zugelassen, die der Entmilitarisierung zustimmten. Erst mit dem Aufflammen des Kalten Krieges forcierten die West-Mächte die Wiederbewaffnung Westdeutschlands ab 1954. Dennoch: Besonders die Erfahrungen eines unerbittlichen Krieges, des Wahnsinns des Holocaust, haben die Wurzeln für den heutigen Pazifismus in Deutschland genährt und gestärkt. Nach den politischen und humanitären Debakeln im Kosovo und in Afghanistan wissen wir alle, dass militärische Strategien gesellschaftliche Konflikte nicht lösen können. Das ist die heilsame Wirkung des Zweiten Weltkrieges, die es gilt, im Namen der Millionen Toten in die Zukunft zu verlängern. 

Analog zur Entmilitarisierung Deutschlands sollte der Nahen Osten Schritt für Schritt entmilitarisiert werden. Um dies in Gang zu setzen, werden vielfältige Schritte notwendig sein, die hier nur kurz skizziert werden können. Jeder einzelne dieser Schritte scheint schon eine übermenschliche Kraftanstrengung zu erfordern, hört sich heute noch wie eine Utopie von Übermorgen an. Doch tatsächlich gibt es keine Alternative dazu, so wie es im waffenstarrenden Europa nach 1945 keine Alternative dazu gab, Deutschland und Österreich zu entwaffnen. Diese Utopie hat uns allen in Europa Frieden beschert. 

Schauen wir aber weiter zu, wie das Feuer der Gewalt die Menschen in Arabien vernichtet, oder heizen wir dies durch weitere Waffenlieferungen an, wird der Krieg bald wieder zu uns kommen. Der Frieden in Europa braucht die Entmilitarisierung des Nahen Ostens und Nordafrikas. Selbst humanitär motivierte Bewaffnungen bieten keine Lösung, weil Waffen und Frieden grundsätzlich direkte Widersprüche sind – eine unauflösbare Dichotomie, so wie Tag nicht Nacht sein kann. Doch was ist konkret zu tun?

V.  Anstatt den verfolgten Jesiden und Kurden Waffen zu liefern, sollten wir sie aus den Gefahrenzonen herausbringen und ihnen helfen, sich bei uns und in anderen Ländern anzusiedeln, bis die Entmilitarisierung der Region vollständig abgeschlossen ist. Indem wir uns als Gesellschaft - und damit unsere jeweilige Regierung - über die gewaltfreien Wege zum Schutz der Menschenwürde bei allen Entwicklungen politischer Strategien verständigen, werden konkrete sinnvolle Handlungen möglich, die wirklich Frieden schaffen können, und nicht auf der Ebene unverbindlicher und moralischer Appelle stecken bleiben.

VI.  Zwecks Entmilitarisierung der Region ist eine internationale Vereinbarung aller großen Waffen herstellenden Staaten darüber erforderlich, dass keine Waffen mehr nach Syrien und in den Irak geliefert werden. Ein globales Waffenembargo für Syrien und den Irak ist notwendig. Als einfachste erste Maßnahme sind alle Geldströme in der Region dahingehend zu überwachen, ob sie Waffenkäufen dienen oder nicht. Hier wären die Überwachungskapazitäten der Geheimdienste sinnvoll genutzt. Insofern ist auch der aktuelle Ansatz der Anti-IS-Allianz vollkommen richtig, die Geldströme für Waffenkäufe auszutrocknen. Doch die Umsetzung scheint nicht energisch Betrieben zu werden, denn ganz offensichtlich reißt der Waffen-Nachschub für die IS-Milizen nicht ab. Zur Intensivierung der Kontrolle der Geldströme wäre es beispielsweise hilfreich, Bankhäusern mit dem Entzug ihrer Banklizenz zu drohen, falls über ihre Konten Waffengeschäfte in der Region abgewickelt werden. Des Weiteren ist eine Beteiligung Russlands und Chinas an diesem globalen Waffenembargo erforderlich, um sie als Quellen für Waffenkäufe sicher auszuschließen. Gute Beziehungen zwischen den drei Weltmächten sind daher eine wichtige Nebenbedingung für den Frieden in Syrien und dem Irak.

VII.  Mit der Unterbindung aller Waffenverkäufe nach Syrien und in den Irak  muss die Entwaffnung aller Armeen und Milizen in den beiden Ländern unter der Aufsicht der UNO erfolgen. Dies wird wohl eine Resolution des UN-Sicherheitsrates für eine robuste UN-Mission erfordern, da sich IS-Milizen oder die syrische und irakische Armee nicht einfach entwaffnen lassen. Auch hierfür ist Einvernehmen der drei globalen Mächte erforderlich, denn die zu vereinbarende UNO-Mission zur Entwaffnung kann nur im Konsens zwischen Russland, USA und China erfolgen. Zusätzlich ist die Beteiligung der regionalen Staaten Türkei, Saudi Arabien, Iran, Ägypten und Israel notwendig, die sicherstellen müssen, dass die beiden entmilitarisierten Staaten militärisch nicht überrannt werden, wenn sie keine Armee mehr besitzen.

VIII.  Doch auch diese Maßnahmen werden noch nicht ausreichen. Nachdem eine Entmilitarisierung Syriens und des Irak nach mehreren Jahren verwirklicht worden ist und es nach weiteren Jahren erste politische Erfolge im Aufbau eines oder mehrerer sunnitischer Staaten in der Region gegeben hat, wird die generelle Reduzierung der Waffenarsenale in der Region erforderlich sein. Denn solange große Armeen in der Türkei, in Saudi Arabien, im Iran, Ägypten oder Israel stehen, existiert Misstrauen zwischen den Staaten. Zudem sind die Waffen dieser Armeen grundsätzlich für illegale Milizen zugänglich: Die IS-Milizen ebenso wie die der Hamas, der Hisbollah, der Muslim Brüder und vieler anderer beziehen große Teile ihres Waffenarsenals von den in der Region vorhandenen Armeen – legal oder illegal. Daher ist mittelfristig ein Waffenembargo für die gesamte Region notwendig. Beginnen können wir schon heute damit, indem wir jede Waffenlieferung dorthin unterbinden. Das ist konkretes, auf ein langfristig positives Ziel ausgerichtetes, im positiven Sinne „utopisches“ politisches Handeln.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Dieser erste Grundsatz der Europäischen Charta für Menschenrechte ist die wesentliche Richtschnur für jedes politische Handeln, das ernsthaft daran interessiert ist, das Morden der IS-Milizen zu beenden. Aus diesem Grundsatz folgt, dass die Region entmilitarisiert werden muss – Schritt für Schritt und mit dem klarem Ziel der Entwaffnung aller Milizen und Armeen in Syrien und dem Irak. Solange wir die Entmilitarisierung nicht ernsthaft anstreben und stattdessen immer weitere Waffen in den Nahen Osten, aus welchen Gründen auch immer, liefern, ist die moralische Empörung über die IS-Milizen nur eine Verdrängung der eigenen Verantwortung. Darüber sollten wir uns bewusst werden und zügig im Sinne der Würde der Menschen im Nahen Osten handeln.

 

[1] In diesem Essay werden folgende Staaten zum Nahen Osten gezählt: Türkei, Syrien, Irak, Iran, Libanon, Jordanien, Israel, Ägypten, Saudi-Arabien, Kuwait, Katar, Bahrain, die Vereinigten Emirate,  Oman und Jemen

[2] Süddeutsche Zeitung, Nr. 234, 11 Oktober 2014, S.8

[3] Michael Siegel, MD, MPH, Yamrot Negussie, Sarah Vanture, Jane Pleskunas, Craig S. Ross, PhD, MBA, and Charles King III, JD, PhD, The Relationship Between Gun Ownership and Stranger and Nonstranger Firearm Homicide Rates in the United States, American Journal of Public Health, April 10, 2014, S. 1981–2010

[4] Siehe hierzu auch: Glück braucht Weisheit, Essay über den Besuch des Dalai Lama in Hamburg 2014, auf: www.dharma-university-press.org

[5] Siehe hierzu unter anderem: Michael Tomasello, Ursprünge der menschlichen Kommunikation, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 2011

[6] Die Gleichwertigkeit ist nicht zu verwechseln mit Gleichheit. Siehe hierzu: Hans Korfmacher, Lebenskreise – Kampf oder Kooperation, dharma-university-press.org, 2014

[7] Siehe hierzu: Der Parlamentarische Rat, Band 5, S. 51 ff

[8] Jürgen Habermas, Zur Verfassung Europas, edition suhrkamp 2011, S. 21

[9] Dalai Lama, Was ist Frieden?, www.dharma-university-press.org

 

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Letzte Änderung am Dienstag, 13 Oktober 2020 16:52

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