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Dalai Lama: "Glück erfordert Weisheit" (2014)

Dalai Lama: "Glück erfordert Weisheit" (2014)

von Hans Korfmacher: 

Hamburg, 24. / 25. August 2014:  Der Dalai Lama erläuterte vor über 7000 Menschen den Text Bodhicaryavatara (Sanskrit Begriffe sind kursiv gesetzt) des indischen Philosophen Shantideva aus dem 8. Jahrhundert, den das Büro des Dalai Lama übersetzt mit: Guide for a Bodhisattva’s Life (dt: Anleitung für ein Leben als Bodhisattva). Für die Zuhörenden hatte das Tibetische Zentrum Hamburg auf Wunsch des Dalai Lama ein Taschenbuch mit der Übersetzung des Textes verteilt. Es war eine sehr tiefgründige Vorlesung, die der Dalai Lama an den zwei Tagen in acht Stunden gab, die kaum zusammengefasst werden kann. Mit diesem Essay möchte ich meine Eindrücke beschreiben, die zum weiteren Studium des Textes motivieren sollen. 

Der Dalai Lama berichtete zu Beginn über das Leben des Mönch Shantideva im 8. Jahrhundert in Indien. Von ihm sind uns bis heute zwei tiefgründige Texte bekannt: Das Siksa Samuccaya  (dt: Kompendium der buddhistischen Lehren) ist eine Übersicht über die wesentlichen Ziele und Methoden des Buddhismus in seiner Zeit, sowie das Bodhicaryavatara, das sich auf die beiden Säulen des Buddhismus – Mitgefühl und Weisheit - konzentriert. Shantideva argumentiert in seinen Schriften im Sinne des sogenannten Prasangika-Mahayana-Buddhismus, der auf den im 2. Jahrhundert in Indien lebenden Philosophen Nagarjuna zurück geht. Dieser hatte die „Lehre vom Mittleren Weg“ und vom „Leer-sein aller Phänomene von inhärenter Existenz“ begründet hat, die zu erläutern eines der Ziele der vom Dalai Lama in Hamburg gehaltenen Vorlesung war. 

Bodhicitta ist das Mittel zur Beendigung von Leid 

Nach einer kurzen Einführung betonte der Dalai Lama die Bedeutung von Bodhicitta, dem Sanskrit Begriff für Erleuchtungsgeist, und stellte diesen Begriff in das Zentrum seiner gesamten Vorlesung.
Bodhicitta hat zwei Aspekte: Es ist einerseits der unbegrenzte Wunsch, alles dafür zu tun, dass alle fühlenden Wesen glücklich und frei von Leid leben können. Dabei ist zu unterscheiden zwischen dem reinen Wünschen und der Verantwortung, die wir bei dessen Verwirklichung übernehmen können. 
Der zweite Aspekt von Bodhicitta bezieht sich auf die geeigneten Mittel, die wir brauchen, um das Ziel der Befreiung aller Wesen vom Leid verwirklichen zu können. „Wenn wir darüber nachdenken, was erforderlich ist, um allen fühlenden Wesen zu einem Leben ohne Leid zu verhelfen, kommen wir am Ende zu der Gewissheit, dass dazu der Geisteszustand eines Buddha erforderlich ist. Denn“, so der Dalai Lama, „Leid entsteht wie alles andere aus Ursachen, die wir erkennen müssen, um es zu ändern. Doch als gewöhnliche Menschen reichen unsere geistigen Fähigkeiten nicht aus, um die vielen Ursachen für das Leid der vielen verschiedenen Wesen zu erkennen, geschweige denn zu ändern.“ Erkennen wir also, dass wir nicht die geeigneten Mittel zur Hand haben, dann entsteht der Wunsch danach, diese zu bekommen. „Ist unser Mitgefühl für andere so umfassend, dass wir alle Wesen vom Leid befreien wollen, dann entsteht der Wunsch, zum Nutzen und Wohl aller Lebewesen die Buddhaschaft erlangen zu wollen. Erreichen wir einen solchen Geisteszustand von Bodhicitta“, so der Dalai Lama, „dann sind wird in den Pfad eines Bodhisattvas eingetreten, der oder die umfassendes Bodhicitta lebt und das Glück aller fühlenden Wesen mit Hilfe der eigenen Buddhaschaft erreichen will.“ 

Damit stand schon nach kurzer Zeit die Frage im Saal, wie der Geisteszustand eines Bodhisattvas erreicht werden kann, womit der Dalai Lama die Zuhörenden in eines der schwierigsten Gebiete der buddhistischen Philosophie stürzte: „Der Weg zur Buddhaschaft führt nur über das Erkennen der Weisheit, die das Leer-sein von inhärenter Existenz erkennt.“ Um diese Aussage zu erläutern, konzentrierte er seine Ausführungen in den ersten vier Stunden seiner Vorlesung auf das 9. Kapitel des Bodhicaryavatara, das sich mit Weisheit beschäftigt, statt wie üblich mit dem 1. Kapitel über die Vorteile von Bodhicitta zu beginnen. Er begründete diesen Schritt dann noch mit der etwas flapsigen Bemerkung: „Denn wenn wir die schwierigen Aspekte der Weisheit heute behandeln, können wir uns morgen ohne Probleme den leichteren und verständlicheren Aspekten des Mitgefühls zuwenden,“ und lachte darüber herzhaft.

Die umfassende Erkenntnisfähigkeit des Geistes ist Grundlage für heilsame Veränderungen

Dann erläuterte der Dalai Lama den Begriff Bodhicitta im Detail: „Citta ist der Sanskrit-Begriff für Geist, dem wir uns annähern können, wenn wir die Existenz eines Geistes als solches akzeptieren. In der Analyse stellen wir schnell fest, dass der Geist ein Kontinuum ist, ohne Anfang und ohne Ende.“ Damit erläuterte er in Kürze jenes Axiom des Buddhismus, das so grundlegend ist wie das Axiom der Mathematik, dass eins plus eins zwei sind. „Bodhi aber ist der bedeutsamere Begriff und benennt, dass wir mit Hilfe des Geistes aus dem Zustand des Schlafes erwachen oder aus der Dunkelheit des Leids heraustreten können. In der tibetischen Sprache verwenden wir für bodhi die beiden Silben tschang tschub, die zum Ausdruck bringen, dass der Geist von Unwissenheit gereinigt werden kann. Bei allen Aktivitäten“, so der Dalai Lama, „ist von besonderer Bedeutung, dass wir unseren Geist von Unwissenheit reinigen.“  

„Um Bodhicitta zu erreichen, sind Grundlagen und Methoden erforderlich, denn nichts geschieht ohne Ursachen. Die Grundlage für die Befreiung des Lebens vom Leid ist der Geist – und nicht der Körper. Jeder Geist“, so betonte der Dalai Lama, „hat die Natur der klaren Erkenntnisfähigkeit“, die als Buddhanatur bezeichnet wird, weil sie die Grundlage dafür ist, dass jeder und jede den Geisteszustand eines Buddha erreichen kann. „Die Buddhanatur ist die Grundlage, auf der wir uns weiter entwickeln können, auf der tschang tschub [Reinigung des Geistes] möglich ist.“ Die umfassende Erkenntnisfähigkeit des Geistes ist das Instrument, mit dessen Hilfe grundsätzlich jeder und jede Einzelne die Ursachen für Leid und Glück im eigenen Geist erkennen und schließlich Handlungsmöglichkeiten zur heilsamen Veränderung finden kann; sie ist das Mittel, um angemessene Wege zur Befreiung von Leid (Sanskrit: Nirvana) zu finden. Der Geist ist somit Objekt der Reinigung als auch das dazu geeignete Instrument. Selbst so schwierige Aspekte wie das Karma von Personen, Gruppen oder Gesellschaften können mit einem derartig weiter entwickelten Geist erkannt werden. 

Nachfolgend gab der Dalai Lama eine sehr dichte Beschreibung der Erkenntnisfähigkeit des Geistes, die darauf hinaus läuft, dass der Geist eine Ansammlung von Informationen ist, die das Potenzial haben, alle Dinge und Zusammenhänge klar und eindeutig zu erkennen. „Die Natur des Geistes ist dessen Erkenntnisfähigkeit“, rief er den Zuhörenden zu. „Der Geist ist nichts mystisches oder geheimnisvolles, sondern hat den Charakter unbegrenzter Erkenntnisfähigkeit. Dieses Potenzial, das wir alle in unserem Geist besitzen, bildet die Grundlage dafür, dass Leid grundsätzlich überwunden werden kann. Doch kann sich dieses Potenzial [unsere Buddhanatur] aufgrund vielfältiger Hindernisse selten entfalten, so dass wir stattdessen meist Leid erleben. In diesem Kontext ist besonders wichtig zu erkennen, dass die Hindernisse zur Befreiung vom Leid [, also jene Hindernisse, die die unbegrenzte Erkenntnisfähigkeit des Geistes behindern,] selbst nicht zur Natur des Geistes gehören. Denn würden diese Hindernisse zur Natur des Geistes gehören, könnte der Geist von diesen Behinderungen grundsätzlich nicht gereinigt werden“ [und wir wären in einer hoff-nungslosen Situation.] 

Der grundsätzliche Optimismus, dass die Aspekte, die die unbegrenzte Erkenntnisfähigkeit des Geistes behindern, nicht zu dessen Natur gehören, kann wohl als zweites Axiom des Buddhismus verstanden werden. Die Hoffnung auf ein friedvolles, heilsames Leben basiert auf dem einfachen Umstand, dass jedes fühlende Wesen – und besonders der Mensch - die Fähigkeit hat, die Hindernisse, die die uneingeschränkte Erkenntnisfähigkeit des Geistes in der Regel behindern, beseitigen kann. „Im ersten Schritt ist es daher wichtig zu erkennen, dass der Geist rein und klar ist und die Hindernisse nicht Teil des Geistes sind. Aus der Erkenntnisfähigkeit und Klarheit des Geistes folgt dann unmittelbar, dass Erkenntnis die beste Methode ist, um Leid zu beenden.“ 

Denken Sie nach!

Erkennen entsteht durch Nachdenken, wobei der Dalai Lama mehrmals betonte, dass sein Verständnis von Denken weit über die intellektuellen oder kognitiven Fähigkeiten hinaus geht, die üblicher Weise nur zur Gewinnung von Daten benutzt werden. In seinen Erläuterungen sowie bei Antworten auf Fragen forderte er die Anwesenden dementsprechend immer wieder auf und rief mehrmals in den Saal: „Denken Sie nach! Denn wenn Sie nicht nachdenken und nur Rituale ausführen, dann können Sie diese auch sein lassen, weil sie ohne Denken zu keinem besonderen Ergebnis führen werden.“ Gehen wir also der Haupttätigkeit des Geistes nach, die wir seit Platon auch im Westen als Denken bezeichnen, besteht die Chance zur Befreiung vom Leid. In diesem Sinne stehen Buddhismus und Aufklärung in einer gemeinsamen Tradition.

Mit der Aufforderung zum Denken unterstrich der Dalai Lama - wie schon so oft - dass es nicht um Glauben an dieses oder jenes geht, nicht um diese oder jene Worte oder Rituale, sondern um Erkenntnisse oder Weisheiten, die nur mit einem klaren Blick auf die Wirklichkeit erlangt werden können: „Die Hindernisse für die Allwissenheit liegen im eigenen Geist und können auch nur von diesem durch umfassendes Denken überwunden werden. Die Buddhas können uns nicht vom Leid befreien, so wie wir Schmutz mit Wasser abwaschen können.“ Hierzu wies er darauf hin, dass, wenn die Buddhas die Fähigkeit hätten, alles Leid hinwegzufegen, sie uns längst davon befreit hätten. „Die eigentliche Tätigkeit der Buddhas besteht darin, allen fühlenden Wesen in angemessener Weise die Natur der Wirklichkeit zu erläutern, so dass wir beispielsweise die Natur unseres eigenen Geistes verstehen lernen. Dies impliziert aber, dass jeder und jede einzelne von Ihnen selbst darüber nachdenkt.“ 

Niemand, kein Buddha und kein Guru, kann in unserem Geist die Hindernisse für eine umfassende Erkenntnisfähigkeit beseitigen. Dies bedarf der eigenen Denktätigkeit, die sich auf höheren Stufen sogar von Begriffen und Bildern trennt. „So ist auch die Verehrung eines Buddha wenig sinnvoll, wenn man nicht über die Merkmale des Geistes eines Buddha nachdenkt und diese nicht versteht. Sie müssen die Texte des Buddhismus studieren, darüber nachdenken und meditieren, um auf diesem Weg erfolgreich sein zu wollen.“

Ohne Weisheit gibt es keine Befreiung vom Leid

Hier nun erläuterte der Dalai Lama in kurzer und prägnanter Weise die vier Formen oder Ausprägungen (Sanskrit: Kaya) des Geistes eines Buddha: „Das Wesentliche ist der Dharmakaya, die Weisheitsform eines Buddha. Dieser Aspekt bedeutet, dass ein Buddha das Abhängige Entstehen und das Leer-sein aller Phänomene von inhärenter Existenz vollständig erkennt. Aufgrund des Dharmakaya  erkennt ein Buddha beispielsweise, dass die Ursachen für das Entstehen der Dinge dreifach sind: a) Dinge entstehen nicht aus einer absoluten Entität [wie einem Schöpfergott], weil solche nicht existieren. b) Die Qualitäten der Ursachen entsprechen den Qualitäten der Wirkungen. So entstehen aus Pflanzensamen immer nur Pflanzen und nichts anderes. c) Alle mitwirkenden Umstände müssen vorhanden sein, damit Erscheinungen entstehen. Zur Entwicklung einer Pflanze aus einem Pflanzensamen braucht es Wasser, Licht usw.“ 

„Die Ursache aber für den Dharmakaya ist das Bewusstsein über das Leer-sein.“ Erst wenn wir das als Abhängiges Entstehen bezeichnete Netzwerk umfassend verstehen, erzeugen wir in unserem Geist die Ursachen für den Dharmakaya, wodurch wir den Geisteszustand eines Buddha erreichen und schließlich Leid beenden können. „Aus dieser Perspektive,“ so der Dalai Lama, „ist das Nicht-Verstehen des Abhängigen Entstehens [, das im Buddhismus als Unwissenheit bezeichnet wird,] die wesentliche Ursache für alles Leid und das Verstehen des Leer-seins von inhärenter Existenz Bedingung für das Erreichen von Glück.“

Uns so führte der Dalai Lama das Auditorium nach nur einer Stunde in das hochkomplexe Gebiet der Weisheit, die das Leer-sein von inhärenter Existenz erkennt. Er begann seine Erläuterungen dementsprechend mit Vers 9.1 des Bodhicaryavatara, der lautet: 

Alle Zweige der Lehre hat Buddha um der Weisheit willen gelehrt. 
Um Leiden zu beenden, ist die Entwicklung von Weisheit erforderlich. 

„Das Ziel eines glücklichen Lebens ohne Leid“, erläuterte der Dalai Lama, „kann nur durch Weisheit, der Entwicklung des Geistes mit Hilfe von tschang tschub erreicht werden. Dabei geht es um die eigene Erkenntnis- und Urteilsfähigkeit und nicht um Glauben. Auch andere Aspekte sind auf dem Weg zur Befreiung vom Leid wichtig, aber ohne Weisheit und Erkenntnis gibt es keine Befreiung. Die wichtigste Erkenntnis ist die in die endgültige Natur der Dinge.“

Die Phänomene sind bloß

Damit stellt sich die Frage: Wie können wir die sogenannte „endgültige Natur der Dinge“ erkennen? Hier kam der Dalai Lama schnell auf den Punkt: „Um die Ursachen des Leids zu erkennen, müssen wir hinter die Erscheinungen schauen. Denn die leidverursachenden Faktoren (Sanskrit: Kleshas) entstehen aus dem Glauben, die Erscheinungen würden aus sich heraus, also inhärent existieren. Mit der Einsicht in das Leer-sein der Dinge von inhärenter Existenz erkennen wir ihre grundlegende Natur. Dadurch wiederum verschwinden schließlich die schädigenden Geisteszustände wie Gier oder Hass.“ Die dahinter stehende Logik scheint einfach zu sein: Wenn wir erkennen, dass eine Erscheinung nicht absolut, nicht unabhängig von anderem existiert, sondern erst aufgrund vielfältiger Abhängigkeiten kurzfristig entsteht und schon wieder vergeht, verliert die Erscheinung ihre Attraktivität oder Nicht-Attraktivität, weil etwas anzustreben oder abzulehnen, was nicht absolut existiert, wenig sinnvoll oder reizvoll ist. 

Doch wie können wir erkennen, das etwas nicht aus sich heraus existiert? Hier griff der Dalai Lama auf eine einfaches Beispiel zurück: „So wie ein Automobil erst durch das Zusammenspiel vieler einzelner Faktoren und Bauteile nur als Begriff entsteht und letztlich lediglich eine Benennung eines Beziehungsgeflechtes von vielen verschiedenen Wirkungsfaktoren ist, bezeichnen alle Begriffe für Phänomene nur einen momentanen Zustand von in Beziehung stehenden Wirkungsfaktoren, die aber selber auch nicht aus sich heraus existieren, sondern nur momentane Zustände anderer Beziehungsgeflechte sind.“ In diesem Sinne sind Dinge, Situationen oder auch Personen bloß momentane Ausdrucksformen eines Beziehungszustandes, die sich schon im nächsten Augenblick aufgrund neuer Beziehungsenergien verändern. 

Dies zu verstehen und anzunehmen ist nicht ganz einfach, weil wir uns ständig an Dingen und besonders an unserem Leben festhalten wollen, was beispielsweise daran sichtbar wird, dass wir den Materialismus in unserer Gesellschaft überhöhen und den Tod tabuisieren. Nach den Beobachtungen des Dalai Lama verstehen theoretische Physiker dieses „Leer-sein von inhärenter Existenz“ intellektuell meist schnell, da sie mit Hilfe der Quantenmechanik leichter wissen, dass selbst die Materie nicht aus sich heraus besteht, sondern nur Ausdruck komplexer Beziehungsfunktionen ist, die mit Worten kaum zu beschreiben sind und lediglich als mathematische Wahrscheinlichkeitsfunktionen beschreibbar sind. 

Die Wirkung dieser Einsicht, die oftmals als „Selbst-Losigkeit der Phänomene“ bezeichnet wird, ist frappierend: „Haben-wollen oder Ablehnung verlieren dadurch unmittelbar ihre Substrate, weil dasjenige, worauf sich Haben-wollen oder Ablehnung bezieht, nicht absolut, sondern nur als ein momentaner Zustand erkannt wird. Gier, Hass und andere schädigende Geisteszustände verlieren dadurch ihre Basis. Verinnerlichen wir das Leer-sein der Erscheinungen von inhärenter Existenz in unserem Geist und verstehen wir, dass die Phänomene [- weder Materie noch Geist -] kein in sich liegendes Selbst besitzen, dann verschwinden alle schädigenden Geisteszustände nach und nach.“ 

Daraufhin rief der Dalai Lama den Zuhörenden die Konsequenz aus diesem Gedankengang zu: „Das Studium und das Nachdenken über und schließlich die Verinnerlichung der Selbst-Losigkeit in der Meditation sind die wichtigen Schritte zur Befreiung vom Leid (Sanskrit: Nirvana).“

Der Verstand erfasst nur das Konventionelle

Doch warum haben wir so große Probleme, die „endgültige Wahrheit über die Natur der Dinge“, die in dem Leer-sein von inhärenter Existenz besteht, zu erkennen? Im Vers 9.2 erläutert Shantideva dazu:

Die Wahrheit wird als zweifach beschrieben: als konventionelle und endgültige. 
Das Endgültige ist nicht die Domäne des Verstandes. 
Der Verstand erfasst nur das Konventionelle.

Unsere Wahrnehmung von Erscheinungen mit Hilfe der Sinne, den Objekten der Sinne und den sich daraus ergebenden Sinneseindrücken verarbeiten wir mit dem Verstand. Dabei ist der Begriff Verstand ganz im Sinne von Kants Kritik der reinen Vernunft zu verstehen, wonach der Verstand nur das mit den Sinnen Erfahrbare verarbeitet. Der Dalai Lama erinnerte in diesem Kontext daran, dass „der buddhistische Meister Chandrakirti festgestellt hat, dass jede Sinneswahrnehmung durch Unwissenheit getäuscht ist. Der Verstand ist nur fähig, das Konventionelle zu erfassen, woraus sich der Glaube an die inhärente Existenz, an die absolute Verlässlichkeit der Materie und Dinge nährt.“ Die Unwissenheit über das Leer-sein der Phänomene von inhärenter Existent, der Glaube an die Unabhängigkeit oder Eigenständigkeit des Erfahrbaren ist sozusagen die prägende Theorie in unserem Geist, mit deren Hilfe wir alle Wahrnehmungen mit unserem Verstand interpretieren. Deshalb kann der Verstand nur das Konventionelle erfassen. Hieraus ergibt sich dann die Konsequenz, dass andere Aspekte des Geistes existieren, die Kant mit reiner Vernunft beschrieben hat, die zur Erfassung des Endgültigen fähig sind. 

In seinen weiteren Ausführungen berichtete der Dalai Lama über die Debatten zwischen verschiedenen buddhistischen Schulen im Hinblick auf die Frage, ob es nicht doch etwas Absolutes, Eigenständiges geben müsse, das beispielsweise als Träger des Karma fungiert. Dies bezieht sich auf die Frage, durch welchen Mechanismus eine heutige Handlung (Sanskrit: Karma) zu einem späteren Moment wirksam werden kann. Muss es nicht ein Substrat geben, das dieses Karma in die Zukunft trägt und muss dann dieses Substrat nicht eine absolute Existenz besitzen, zumal wenn wir bedenken, dass Karma über mehrere Leben wirksam sein kann? Diese Vorstellung eines Substrates, das in den westlichen  Religionen und Geisteswissenschaften auch als unsterbliche Seele bezeichnet wird, die über die Leben hinweg wandert, scheint auf den ersten Blick plausibel zu sein für die Erklärung eines Phänomens, das nur schwer zu erfassen ist. Denn wie sonst soll die Wirkung einer Handlung transportiert werden? „Doch diese Sichtweise entspringt der Unwissenheit,“ erläuterte der Dalai Lama. „Selbst in den verschiedenen buddhistischen Schulen wird die Frage eines Substrates als Träger von Karma diskutiert und oft wird das Argument vorgetragen, dass es etwas geben müsse, welches Träger des Karma sei. Doch das ist falsch!“ 

Seine klare und auch scharfe Aussage begründete der Dalai Lama dann anhand der Beziehungen zwischen den drei Zeiten Vergangenheit, Gegenwart und Zu-unft: „Ohne Bezug auf Vergangenheit und Zukunft, lässt sich die Gegenwart nicht bestimmen. Wir können uns sogar fragen, wie groß der Anteil der Vergangenheit an der Gegenwart ist? Und wie groß ist der Anteil der Gegenwart an der Zukunft? Denken wir intensiv über die drei Zeiten nach finden wir, dass sie nicht unabhängig voneinander existieren.“ 

Diese Sichtweise auf die Zeit wird klarer, wenn wir sie beispielsweise mit mathematischen Modellen beschreiben: Wenn wir das, was wir einen gegenwärtigen Moment nennen, immer weiter verkleinern und bedenken, dass vor dem verkleinerten Moment Vergangenheit und nachher Zukunft sind, so kann diese Verkleinerung soweit fortgetrieben werden, bis Vergangenheit und Zukunft eins sind oder die Gegenwart alles. Vergangenheit und Zukunft nähern sich mathematisch betrachtet einem Grenzwert an, den wir Gegenwart nennen. „Die Analyse zeigt uns, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Wesentlichen nur Begriffe zur Benennung eines bloßen Momentes sind. Wenn man von einem gegenwärtigen Moment spricht, so hat dieser immer auch Aspekte von Vergangenheit und Zukunft. Mit der Belegung durch einen Begriff erzeugen wir die Illusion der Eigenständigkeit eines Phänomens. Mit dem Begriff der Gegenwart versuchen wir, einen scheinbar von Vergangenheit und Zukunft unabhängigen Zeitmoment zu fixieren. Aber ohne Zukunft und Vergangenheit existiert keine Gegenwart.“ 

Die Parallele zum möglichen Substrat als Träger von Karma, erläuterte der Dalai Lama damit, dass wir ein solches Substrat erst durch einen Begriff zu einem scheinbar fixierten, absolut Bestehendem erheben. Indem wir den Begriff Seele als etwas unsterbliches denken, entsteht die Illusion eines abgrenzbaren Dings, was darauf zurück zuführen ist, dass wir in der Regel dinghaft und mechanistisch, also bezogen auf Erfahrungen denken. Es existieren Hindernisse in unserem Geist, die uns daran hindern zu erkennen, dass die potenzielle Wirkung einer heutigen Handlung dadurch entsteht, dass jede Handlung einen Impuls in einem Netzwerk von unübersehbaren Wirkungsfaktoren erzeugt, so wie der Schmetterling im Amazonas durch seinen Flügelschlag ein Potenzial erzeugt, wodurch ein Sturm in einem anderen Erdteil entstehen kann. Die Betonung liegt hierbei auf der Potenzialität, der grundsätzlichen Möglichkeit dieser Wirkung, die jedoch nicht zwangsläufig ist. Erst wenn alle mitwirkenden Umstände – unzählige meteorologische Bedingungen und vieles andere mehr - vorhanden sind, kann sich das Potenzial zu einer Wirkung entfalten. Aufgrund der Komplexität der Zusammenhänge kann aber solche Potenzialität kaum mit Begriffen erfasst werden kann, weil sie in der Welt der Begriffe nicht mehr beschreibbar ist, was wir beispielsweise in der nicht-lineare Chaostheorie erleben.

Der mittlere Weg

Die Debatte darüber, ob die Weisheit, die das Leer-sein von inhärenter Existenz erkennt, erforderlich ist, um die Buddhaschaft zu erreichen, findet seit vielen Jahrhunderten zwischen verschiedenen buddhistischen Lehrmeinungen statt. Viele der frühen buddhistischen Schulen, besonders des sogenannten Hinayana, bezweifeln, dass die Weisheit über das Leer-sein Bedingung ist, um schädigende Geisteszustände dauerhaft zu überwinden. Die Argumente dieser buddhistischen Debatte bildet Shantideva im 9. Kapitel weitgehend ab, auf die der Dalai Lama deshalb intensiv einging, da sie uns auf zwei Extreme hinweist:
Im Vers 9.18 wird zunächst die Sichtweise der Nur-Geist-Schule (Cittamatra) be-schrieben, die argumentiert: 

„Das Bewusstsein braucht kein äußeres Objekt, 
um etwas wahrzunehmen. 
Es erschafft sich die Wahrnehmungen selbst, 
so wie das Lampenlicht sich selbst erhellt.“ 

Darin drückt sich das Primat des Geistes in der Cittamatra Denkweise aus. Dem entgegnet Shantideva in Vers 9.19: „Das Lampenlicht kann sich nicht selbst erhellen, weil es niemals von der Dunkelheit verhüllt war“, und bringt damit zum Ausdruck, dass das Licht niemals mit der Dunkelheit in Verbindung war, die Dunkelheit nicht kennt. Im Vers 9.21 ergänzt Shantideva dann: 

„Dass das Licht der Lampen etwas erhellt, sagt man, 
weil man dies mit einem Bewusstsein erkannt hat. 
Doch womit hat man jemals erkannt, 
dass das Gewahrsein die Eigenschaft des Erhellens besitzt, 
um dies als Tatsache behaupten zu können?“ 

Die Beschreibung einer Sinneswahrnehmung – wie das eines erhellendes Lichtes – ist also ein begrifflicher Vorgang, der ein Bewusstsein braucht. Diese Argumentation scheint zunächst die Sichtweise Cittamatra der zu bestätigen, dass nur der Geist notwendig ist, um alle Erscheinungen zu erklären. Doch wer hat jemals erkannt, dass das Bewusstsein die Eigenschaft des Erhellens hat? Mit dieser Frage benennt Shantideva die Absurdität, dass der Geist alleine etwas erhellen oder verdunkeln könnte. Im Vers 9.28 schließlich trägt Shantideva das entscheidende Gegenargument zur Cittamatra Philosophie vor: 

 „Wenn ihr annehmt, der Geist sei inhärent [unabhängig von anderem], 
aber ohne wirkliches Objekt, 
dann wäre er völlig isoliert und ohne jede Wirkung.“ 

„Hier nun argumentiert Shantideva ganz im Sinne Nagarjunas,“ erklärte der Dalai Lama. „Wäre der Geist alleinig ausreichend für die Wahrnehmung einer Erscheinung und stünde er bei einer Wahrnehmung nicht in Beziehung zu einem Objekt, dann wäre der Geist immer ohne jede Wirkung, könnte auf anderes nicht einwirken." Dies aber ist ein eindeutiger Widerspruch zur alltäglichen Erfahrung, bei der wir feststellen, dass unser Geist – man möchte sagen zum Glück – ständig wirksam ist. Die Tatsache, dass wir mit unserem Geist etwas bewirken können, so Shantidevas Hauptargument, belegt, dass der Geist in Beziehung zu Objekten steht und nicht unabhängig von diesen existiert. 

Auf der anderen Seite argumentiert Shantideva im 9. Kapitel gegen die Schulen des Buddhismus, die die inhärente Existenz einer kleinsten Substanz beispielsweise als Träger des Karma annehmen, wie etwa die Schule der Vaibashika, die die der griechischen und auch der mechanistischen Atomtheorie der klassischen Physik recht nahe stehen. Zur Widerlegung dieser Sichtweise argumentierte der Dalai Lama mit Hilfe der Logik: „Aus der Logik sind Phänomene bekannt, die direkte Widersprüche zueinander bilden und keine dritten Möglichkeiten zulassen.“ Dies sind Begriffe oder Dinge, die nur in zwei Ausprägungen vorkommen können. Abgeleitet ist diese Logik aus der Mengenlehre, wonach alle Elemente eines Gegenstandsbereiches nur zwei Begriffen zugeordnet werden können. Ein solches Begriffspaar ist beispielsweise die Nord- und Südhemisphäre einer Kugel: Alle Elemente einer Kugel gehören entweder der Nord- oder der Südhemisphäre an. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. „Die Vorstellungen von der inhärenten Existenz von Dingen und die des Leer-seins von inhärenter Existenz bilden ein solches dichotomes Begriffspaar, das sich in direktem Widerspruch befindet. Es gibt keine dritte Sichtweise dazu.“ Wir können auch formulieren: Entweder ist etwas unabhängig oder abhängig. Eine dritte Möglichkeit gibt es nicht. „Wenn man die realen Dinge nun darauf untersucht, ob sie von anderem abhängig sind oder nicht, findet man, dass sie selbst auf der groben materiellen Ebene immer von etwas anderem abhängig sind. Eine inhärente, unabhängige oder eigenständige Existenzweise von Dingen kann nicht einmal auf der materiellen Ebene gefunden werden. Wenn dem aber so ist, wie könnten die Phänomene auf subtileren Ebenen unabhängig von anderem existieren?“ Da wir also bei jedem einfachen Phänomen dessen Abhängigkeit von anderem schon mit unseren einfachen Sinnen beobachten können, kann kein Phänomen unabhängig von anderem existieren. 

Schließlich ging der Dalai Lama kurz auf die fünf Aggregate (Sanskrit: Skandhas) ein - das sind Materie, Empfindungen, begriffliche Unterscheidungen, sonstige gestaltende Faktoren und das Bewusstsein – die nach buddhistischer Philosophie die gesamte Welt bilden. Nach seinen Erfahrungen fällt es uns sehr schwer zu akzeptieren, dass alle fünf Aggregate leer davon sind, aus sich heraus zu existieren, also vollständig abhängig von anderem sind: „Der Verstand und die daraus entstehenden Begriffe gaukeln uns ständig vor, Phänomene würden aus sich heraus existieren.“ Natürlich sehen wir leicht ein, dass es Wasser, Boden und Licht bedarf, damit eine Pflanze wachsen kann. Doch schon argumentieren wir, dass Wasser, Boden oder Licht unabhängig von anderem existieren. Spätestens erwischt uns der Glaube an die Unabhängigkeit bei der Vorstellung, Materie würde aus eigenständigen Atombauteilen existieren, weshalb wir von den großen Teilchenbeschleunigern wie dem CERN in Genf so fasziniert sind. Angesichts der Schwächung unseres Geistes durch die benannten Hindernisse, ist es kaum verwunderlich, dass wir im Falle des eigenen Leidens oder Glücks auf unsere Unabhängigkeit pochen und die vielfältigen Abhängigkeiten nicht erkennen können oder wollen. Und wenn die Ursachen für das erlebte Leid dann auch noch in eigenen vergangenen Handlungen (Sanskrit: Karma) zu suchen sind, dann ist die Abwehr gegen die Sichtweise vollständig und wir formulieren den stillen Satz: „Ich bin doch nicht selbst Schuld!“ 

Leben Sie das gemeinsame Ziel der Menschlichkeit

Dabei ist das Erkennen und Annehmen der wechselseitigen Abhängigkeiten Voraussetzung für ein friedliches Leben mit anderen. Immer wieder betonte der Dalai Lama die Bedeutung der Weisheit für das Glück: „Um das Leid zu überwinden, [und Glück zu erfahren], reichen selbst Liebe und Mitgefühl nicht aus, sondern es ist erforderlich, die subtilen Ebenen des Leer-seins zu erkennen.“ Die Wirkung dieser Weisheit erläuterte der Dalai Lama anhand Vers 9.52: 

Um der Lebewesen will, die aufgrund ihrer Unwissenheit leiden,
verweilen die Bodhisattvas wirkend im Daseinskreislauf, 
befreit von den Extremen der Anhaftung und der Ablehnung.
Dies ist die Frucht der Erkenntnis des Leer-seins.

Bodhisattvas“, so der Dalai Lama, „gehen nicht ins Nirvana (dt: Befreiung vom Leid) ein. Sie bleiben in der Welt, aber nicht aus Anhaftung an diese oder jene Dinge oder Personen, sondern nur, weil sie aus Liebe und Mitgefühl allen fühlenden Wesen helfen wollen, sich aus dem Leid zu befreien.“ Dies ist die wesentliche Botschaft des Mahayana-Buddhismus, und es ist von besonderer Bedeutung, die Texte des Prasangika-Mahayana-Buddhismus intensiv zu studieren, darüber nachzudenken und zu meditieren. „Wir müssen versuchen, den ursprünglichen Buddha zu verstehen und damit auch die ursprünglichen Texte des Buddha zu studieren. Dabei ist die Konzentration auf die Weisheit, die das Leer-sein erkennt, von höchster Bedeutung.“

In seiner Vorlesung appellierte der Dalai Lama dann mehrmals an die Verantwortung jedes und jeder Einzelnen, eine menschliche Gesellschaft und Welt zu gestalten, die Ausdruck eines leidfreieren Lebens ist. Shantidevas Bodhicaryavatara beschreibt nach Auffassung des Dalai Lama die gesamte Lehre des ursprünglichen Buddha in diesem Sinne, obwohl der Text ca. 1300 Jahre nach dem historischen Buddha entstanden ist. Am zweiten Tag seiner Vorlesung erläuterte der Dalai Lama daher das 1. Kapitel über den großen Nutzen und Vorteil von Bodhicitta, wie dies in Vers 1.7 beschrieben wird: 

Die großen Weisen, die über viele Zeitalter meditierten, 
haben den großen Nutzen von Bodhicitta erkannt. 
Es lässt unendliche Scharen von Lebewesen 
leicht die höchste Glückseligkeit zuteil werden.

Die Vorteile von Bodhicitta beziehen sich laut Dalai Lama nicht nur auf ein jenseitiges Leben, sondern erzeugen heilsame Früchte schon in diesem Leben, was er anhand Vers 1.17 erläuterte:

Das wünschende Bodhicitta trägt bereits heute große Früchte. 
Doch geht daraus nicht der ununterbrochene Strom von Verdiensten hervor, 
wie er aus dem handelnden Bodhicitta entsteht.

„Das handelnde Bodhicitta übernimmt Verantwortung dafür, das Leid aller Wesen durch eigene Handlungen überwinden zu wollen. Dazu ist es erforderlich, dass man sich auf die Eigenschaften, Fähigkeiten und Neigungen der verschiedenen Wesen einstellt, ihr Karma und ihre Tendenzen erkennt.“ Dadurch wird man fähig, die richtigen Mittel und vor allem die angemessenen Worte zu finden, die die Angesprochenen befähigen, sich selbst aus dem existierenden Leid zu befreien. „Doch damit wir die richtigen Mittel für diese Arbeit finden, müssen wir zwei Haupthindernisse überwinden: Einerseits müssen wir die Selbstbezogenheit aufgeben, die immer nur Glück verhindert. Und zweitens ist die Sicht der scheinbar objektiven Existenz der Dinge zu überwinden. Wenn wir diese beiden Haupthindernisse beseitigen, können wir das endgültige Bodhicitta erlangen.“

Diese Lebenshaltung erläuterte der Dalai Lama an verschiedenen Beispielen. So impliziert sie, dass man vergangene Handlungen, durch die man anderen Wesen geschädigt hat, auf tiefem Herzen bedauert und dann beschließt, in der Zukunft nicht mehr in schädigender Weise, sondern aus reinem Mitgefühl für andere zu handeln. „Denn wenn wir den Schaden, den wir früher angerichtet haben, nicht bedauern, wie soll dann Mitgefühl entstehen. Mitgefühl zu leben erfordert eine Haltung der Liebe für alle Lebewesen“, die er als den Wunsch beschrieb, dass alle Lebewesen glücklich Leben sollen. „Jeder der sieben Milliarden Menschen hat eine Verantwortung für eine heilsame und friedliche Welt. In ihrem Einflussbereich kann jeder von Ihnen Mitgefühl täglich leben und Vertrauen schaffen.“ Dies ist die universelle Verantwortung jedes und jeder Einzelnen, die wir für das Glück und das Leid der anderen sieben Milliarden Menschen tragen. 

Ganz im Sinne einer Graswurzelbewegung rechnete der Dalai Lama dann vor: „Hier in diesem Saal sind ca. 7000 Menschen. Wenn jeder von Ihnen mit zehn anderen Menschen liebevoll umgeht, dann sind es schon 70.000 Menschen, die miteinander mitfühlend leben können. Und wenn jeder von diesen mit weiteren zehn oder hundert Menschen so lebt, dann sind es schnell viele Millionen Menschen, die friedvoll Leben dürfen. In diesem Sinne bitte ich Sie: Leben Sie das gemeinsame Ziel der Menschlichkeit!“

Universelle Verantwortung kann nicht delegiert werden

Die Nachmittagssitzung des zweiten Tages wurde eröffnet mit vielen Fragen der Zuhörenden zum Themenkomplex Mitgefühl. Eine Fragende bat den Dalai Lama, alles in seiner Macht stehende zu unternehmen, die brutalen Kriege im Nahen Osten, in der Ukraine oder in anderen Teilen der Welt zu beenden. Hierauf gab der Dalai Lama eine sehr bemerkenswerte Antwort: „Alle Kriege und Konflikte sich schreckliche Ereignisse, worunter viele Menschen leiden. Aber ich kann diese Probleme nicht lösen. So wie die Buddhas alleine das Leid der Wesen nicht so beseitigen können, wie wir Schmutz mit Wasser wegwaschen, so kann auch ich diese Kriege nicht einfach beenden. Warum? Kriege und Konflikte entstehen – wie alle Dinge oder Ereignisse – aus Ursachen, die in der Vergangenheit liegen. Weil aber diese Ursachen in der Vergangenheit entstanden sind, können wir diese nicht mehr ändern, denn die Vergangenheit ist abgeschlossen. Kommen alle mitwirkenden Umstände zusammen, dann verwirklichen sich leider diese Ursachen und es entstehen Kriege und andere Konflikte, die wir dann in dieser Phase nicht mehr aufhalten können, weil alle Bedingunen für die Wirkung der Ursachen vorhanden sind.“ Dieser erste Teil der Antwort schien viele im Saal zu überraschen, scheint sie uns doch zur Passivität zu verdammen und im Widerspruch zum Aufruf zur Menschlichkeit zu stehen. 

Doch dann fragte der Dalai Lama die Fragende nach ihrem Alter, das sie mit 24 Jahren angab und sagte: „Sehen Sie, ich bin ein Mensch des 20. Jahrhunderts und wir Menschen des 20. Jahrhunderts haben viele Ursachen für Leid in dieser Welt erzeugt. Sie sind ein junger Mensch des 21. Jahrhundert und Sie haben die Chance, durch Ihr Verhalten die Ursachen zu erzeugen, die zukünftiges Leid verhindern. Ihre Generation kann die Probleme dadurch lösen, indem Sie sich heute so verhalten, dass kein Schaden für andere entsteht. Das ist die Verantwortung, die jeder und jede Einzelne hier im Saal – und natürlich auch draußen – trägt. Ihr gewaltfreies Verhalten in jeder alltäglichen Situation bildet die Grundlage dafür, dass in der Zukunft Frieden möglich wird und Konflikte vermieden werden. Mit Ihrem gewaltfreien Verhalten legen Sie heute die Ursachen für ein gewaltfreies Zusammenleben der Menschen von Morgen. Das ist Ihre universelle Verantwortung, die sie nicht auf einen Buddha oder jemanden wie mich delegieren können.“ 

Mit dieser Antwort fordert der Dalai Lama uns auf, mit jeder einzelnen Handlung unseren Beitrag für ein friedliches Zusammenleben der Menschen zu leisten. Gelingt uns dies, hat dies auch Auswirkungen auf andere Gesellschaften und Menschen in anderen Regionen unserer Welt. Begegnen wir beispielsweise den nach Deutschland geflüchteten Menschen oder Menschen islamischen oder sonstigen Glaubens mit Liebe und Mitgefühl, dann erzeugen wir unmittelbar eine Ursache, die eine heilsame Wirkung in der Zukunft haben wird. Vielleicht verhindern wir mit solchen alltäglichen konkreten Haltungen und Handlungen, dass ein kleiner Junge in einigen Jahren als junger Mann in den Dschihad zieht und kaum zu ertragendes Leid für sich und andere erzeugt.

Abschließend erläuterte der Dalai Lama am Nachmittag noch das 2. bis 8. Kapitel, um die Vollständigkeit der mündlichen Übertragung zu gewährleisten, die nach tibetisch-buddhistischer Tradition wichtig ist, damit Lehrinhalte wirksam werden können. Hervorzuheben bleiben an dieser Stelle seine Erläuterungen zum Vers 4.28, mit dem Shantideva erklärt, dass unsere negativen, weil schädigenden Emotionen wie Wut, Hass usw. unsere eigentlichen Feinde sind. 

Es sind nicht die äußeren Feinde, 
die uns die größten Probleme bereiten, 
weil diese unseren Geist gar nicht dauerhaft aufwühlen können.“ 

„Vielmehr sind die äußeren Feinde, wie Shantideva im 6. Kapitel erläutert, unsere besten Lehrer, weil wir aufgrund solcher äußeren Angriffe unsere inneren schädigenden Emotionen wahrnehmen und schließlich auch überwinden können.“ Dabei ist - wie im Vers 4.46 dargelegt – nach Auffassung des Dalai Lama besonders zu bedenken: 

Die Leidenschaften wohnen weder in den Objekten, 
noch in den Sinnesorganen, nicht dazwischen und nicht anderswo.
Wo sind sie und erschüttern die ganze Welt? 
Wie Trugbilder sind sie!
Gib daher die Furcht auf, mein Herz, 
und bemühe dich um die Weisheit des Leer-seins.

Eine Video-Aufzeichnung der Vorlesung ist erhältlich unter: www.auditorium-netzwerk.de 

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