Mulamadhyamakakarika - Nagarjunas grundlegende Gedanken zum Mittleren Weg

Entwicklung einer deutschsprachigen Interpretation - von Hans Korfmacher

  • Donnerstag, 18 Dezember 2014 00:00
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Kapitel I: Die beziehungsmäßigen Bedingungen

Vers 1.1

Niemals und nirgends
entsteht eine Erscheinung
aus sich heraus, aus anderem,
aus beidem oder ohne Ursache.

At nowhere and at not time can entities ever exist by originating out of themselves, from others, from both or from the lack of causes. (Inada 1970)

No existents whatsoever are evident anywhere that are arisen from themselves, from another, from both or from a non-cause. (Kalupahana 1986)

Neither from itself nor from another, nor from both, nor without cause does anything whatever, anywhere arise. (Garfield 1995)

Nirgend und niemals findet man Dinge, entstanden aus sich heraus, aus anderem, aus sich und anderem oder ohne Grund. (Weber/Back 1997)

Die Erscheinungen erzeugen sich nicht selbst, und sie werden auch nicht von etwas anderem erzeugt. Da durch beides nicht, und da sie doch nicht ohne formale Ursachen sind, weiß man, dass sie nicht erzeugt werden. (Geldsetzer 2010)

Schlüssel-Begriffe:
entities = existent = anything = Dinge = Erscheinung ; Grund = Ursache = cause ; nowhere = anywhere = nirgends ; at no time = niemals

Die Formulierungen der fünf Übersetzungen des ersten Verses stimmen inhaltlich fast vollständig überein, was darauf hinweist, dass in diesem Vers Nagarjunas Gedanken besonders klar zum Ausdruck kommen. Dieser Vers fasst in jeder Hinsicht die Essenz des gesamten Mulamadhyamakakarika zusammen:
Einerseits entsteht niemals und nirgends eine Erscheinung aus irgendeiner Ursache – weder aus sich selbst heraus, noch aus anderem als Ursache.

Mit dem Begriff >>Erscheinung<< weist Nagarjuna auf alles Existierende hin - sei es ein materieller Gegenstand, ein Lebewesen, ein Geisteszustand oder ein abstraktes Wissensobjekt wie eine Zahl – und dessen Charakter des Scheinens, ähnlich wie später die griechischen Philosophen. Die Beifügung >>Schein<< bringt nach Auffassung Sokrates'
zum Ausdruck, dass das Existierende auf der Bühne des Lebens nur erscheinen kann, nur real so ist, wie wir es erleben.

Das Erscheinen ist gleichzeitig Begründung dafür, dass Ursachen nicht aus sich heraus existieren. Deshalb lehnt Nagarjuna radikal jedes Entstehens aus isolierbaren Ursachen ab. Dies hat oft zur Interpretation geführt, er würde die Welt statisch oder gar nihilistisch betrachten. Doch das Gegenteil ist der Fall:

Weil alles in ständiger Veränderung ist, kann das Existierende werde aus Ursachen noch ohne diese entstehen.

Doch wie kann etwas ohne Ursachen und nicht ohne Ursachen entstehen? In diesem scheinbaren Paradoxon zeigt sich die besondere Qualität Nagarjunas Denken: Er will uns von der üblichen Denkweise wegführen, die die eigenständige Existenz von Erscheinungen annimmt und die wir im Sinne der ebenfalls üblichen Kausalitätsgesetze als Ursache oder einer Nicht-Ursache begreifen, um uns auf neuen Wegen darauf hinzuweisen, dass Erscheinungen sich in einem ständigen Werden und Vergehen befinden, ohne je als eigenständige Ursachen oder Wirkungen isoliert werden zu können.

Ein absolutes Ding kann nicht gefunden werden. Weder in den Atomen noch im Geist. Ganz im Sinne der quantenmechanischen Vorstellung, dass Materie nur als Wahrscheinlichkeitsfunktion möglicher Seins-Zustände beschrieben werden kann.

Die Erläuterung dieser ungewöhnliche Betrachtungsweise der Erscheinungen, die auf Buddhas Lehre vom Abhängigen Entstehen beruht, ist das Ziel der weiteren 444 Verse des Mulamadhyamakakarika, wobei alle verwendeten Metaphern uns helfen sollen, das Unmögliche intuitiv zu denken und zu erfassen.

Vers 1.2

Nach den Lehrtraditionen existieren ausschließlich
vier beziehungsmäßige Bedingungen, die als Ursachen wirksam sein können:
a) verursachende Bedingungen, die unmittelbar etwas bewirken
b) Objekt-Bedingungen, die die Grundlage für Wahrnehmung sind
c) vorausgehende Bedingungen, die einer Wirkung vorausgehen
d) zweckgerichtete Bedingungen, die nur einen Zweck verfolgen.
Darüber gibt es keine weiteren Ursachen.

There are four and only four relational conditions; namely primary causal, appropriating or objectively extending, sequential or contiguous and dominantly extending conditions. There is no fifth. (Inada 1970)

There are only four conditions, namely primary condition, objectively supporting condition, immediately contiguous condition and dominant condition. A fifth conditions does not exist. (Kalupahana 1986)

There are four conditions: efficient condition; percept-object condition; immediate condition; dominant condition. There is no fifth condition. (Garfield 1995)
Einwand: Nach der Lehrtradition gibt es doch vier Arten von Bedingtheiten (pratyaya) für das Entstehen der Dharmas: (1) ein Grund aus dem sie hervorgehen (hetu), (2) das, worauf sie sich stützen (arambana), (3) etwas, was ihnen unmittelbar vorausgeht (anantara) (4) etwas, das ihnen übergeordnet ist (und wovon sie abhängen) (adhipateya). Eine fünfte Weise der Bedingtheit gibt es nicht. (Weber/Back 1997)

(Es wird behauptet, allerdings nur von dem Griechen Aristoteles: Formursache (hetu), materiale Ursache (Ursache als Glied einer Reihe; arambana), Wirkursache (vorausgehende Ursache; anantara) und Ursache des Abzielens auf einen Wert (Zweckursache; adhipati) als vier Ursachen, sollen alle Erscheinungen erzeugen. Darüber hinaus gäbe es keine fünfte Ursache. (Geldsetzer 2010)

Schlüssel-Begriffe:
a) hetu: primary causal = primary condition = efficient condition = Ein Grund, aus dem etwas hervorgeht = Formursache
b) arambana: objectively extending condition = objectively supporting condition = percept-object condition = das, worauf sich etwas stützt = materiale Ursache = Ursache als Glied einer Reihe
c) anantara: sequential condition = immediate contiguous condition = immediate condition = was einer Wirkung unmittelbar vorausgeht = Wirkursache (vorausgehende Ursache)
d) adhipati: dominantly extending condition = dominant condition = etwas, das den Wirkungen übergeordnet ist = Ursache des Abzielens (Zweckursache)
e) pratyaya: Bedingtheit = Ursachen = relational conditions = condition

Im zweiten Vers zählt Nagarjuna die seit jeher verwendete Einteilung von Ursachen auf, aufgrund derer wir annehmen, dass Erscheinungen entstehen:

a) Danach hätte eine verursachende Bedingung die Eigenschaft, unmittelbar etwas zu bewirken. Hierzu zählt die Vorstellung, der Schlag auf eine Klangschale sei eigenständige Bedingung für die Entstehung eines Tones.

b) Äußere Objekte wiederum betrachten wir als Bedingung dafür, dass wir etwas wahrnehmen können, weshalb wir die Objektivität einer Wahrnehmung postulieren. Beispielsweise glauben wir, dass die unabhängige Existenz eines Baumes Ursache dafür sei, dass wir den Baum mit unseren Sinnen wahrnehmen und begrifflich beschreiben und analysieren können. Die Annahme der Objektivität verleitet uns zur Einschätzung, dass alle anderen jenen Baum mindestens in gleicher Weise wahrnehmen würden, solange ihre Sinne nicht getäuscht sind.

c) Mit Hilfe von vorausgehenden Bedingungen konstruieren wir selbstständige Ursachen, die einem Ereignis vorausgehen. Sie sind nicht zwingend unmittelbare Bedingungen, können eine Weile, Stunden oder viele Jahrzehnte vorausgehen. Doch scheinen sie uns notwendig, um etwas hervorzubringen. Daraus entsteht der Glaube an Kausalitätsgesetze mit echten eigenständigen Ursachen, die dieses oder jenes bewirken.

d) Eine zweckgerichtete Bedingung glauben wir immer dann erkennen zu können, wenn ein Zweck erfüllt wurde und wir versuchen, dessen Entstehung zu verstehen. So schreiben wir jedem zweckgerichteten Vorgang eine spezifische zweckgerichtete Ursache zu, meist monokausaler Art, und verlieren so den Kontakt zu den multifaktoriellen Bedingtheiten der Gegenwart.

In vier der fünf Übersetzungen werden diese Ursachen als Bedingungen bezeichnet, die notwendig sind, um etwas hervorzubringen. Das weist darauf hin, dass der Begriff >>Bedingung<< zentral ist für Nagarjunas Erläuterung des Abhängigen Entstehens. Doch auch mit diesem Begriff, der bereits das bedingte Entstehen enthält, fallen wir schnell in die gewöhnliche Denkweise, dass diese Bedingungen aus sich heraus existieren und eigenständig sind. Unsere heutigen Naturwissenschaften bestätigen Kausalitäten in komplexen Systemen und erläutern vielfältige, komplexe Ursachennetzwerke - wie beispielsweise jenem berühmten Flügelschlag eines Schmetterlings, der einen Sturm erzeugen kann. Bei der Betrachtung dieser Netzwerke fügen wir aber fälschlicher Weise diesen ein Selbst-sein zu.

Genau von dieser Art des eher oberflächlichen oder groben Verständnisses des kausalen Entstehens will Nagarjuna uns wegführen. Mit der Annahme über einen objektiven Baum legen wir der Erscheinung des Baumes eine Soheit oder ein Selbst bei, als würde er unabhängig von der Wahrnehmung der wahrnehmenden Personen existieren. Das jedoch ist eine grobe Fehleinschätzung: Jede Person kann ein Objekt nur rein individuell wahrnehmen, sieht jedes Objekt nur aus der eigenen Perspektive. Keine zwei Personen können je ein Objekt identisch wahrnehmen.

Aus dieser Tatsache entstehen zwangsläufig Meinungsunterschiede, die wir jedoch meist verdrängen, weil wir glauben, dass jeder und jede den Baum identisch wahrnehmen würde. Aufgrund der verdrängten Wirklichkeit einer prinzipiell nur individuellen Wahrnehmung entstehen Konflikte, die erst dann beendet werden, wenn durch einen Dialog die unterschiedlichen Perspektiven kommunikativ ausgetauscht und reflektiert werden können.

Nagarjunas These lautet daher: Gerade weil alle Phänomene erst aufgrund von Beziehungen existieren und somit miteinander verbunden sind, können aus sich heraus existierende Ursachen nicht gefunden werden. Vermeintlich isolierbare Ursachen sind nur zwischenzeitliche abhängig entstandene und wieder vergehende Phänomene. Hierin spiegelt sich sein umfassendes Verständnis der Hauptthese Buddhas: Alle Phänomene sind leer davon, aus sich heraus zu existieren.

Vers 1.3

Ein Selbst-sein kann in Erscheinungen,
einschließlich der beziehungsmäßigen Bedingungen,
nicht gefunden werden.
Findet sich kein Selbst-sein,
kann auch kein Anders-sein gefunden werden.

In these relational conditions the self-nature of entities cannot exist. From the non-existence of self-nature, other nature too cannot exist. (Inada 1970)

The self-nature of existents is not evident in the conditions. In the absence of self-nature, other-nature too is not evident. (Kalupahana 1986)

The essence of entities is not present in the conditions. If there is no essence, there can be no otherness essence. (Garfield 1995)

In so etwas wie Bedingungen (pratyaya) ist Eigen-sein (svabhava) von Dingen nicht zu finden. Findet sich aber kein Eigen-sein, dann auch kein Anders-sein (parabhava). (Weber/Back 1997)

Bei allen Erscheinungen gilt: Substantialität liegt nicht in ihnen und nicht in Ursachen. Weil sie keine eigene Substantialität haben, haben sie auch keine Substantialität von anderswo her. (Geldsetzer 2010)

Schlüssel-Begriffe:
svabhava = self-nature = essence of entities = Eigen-sein = Substantialität; Entities = existents = Dinge = Erscheinungen;
parabhava = other nature = otherness essence = Anders-sein = keine Substantialität von anderswo her

Im dritten Vers formuliert Nagarjuna den Kern seines Verständnisses: Ein Selbst-sein kann in keiner Erscheinung gefunden werden. Geist und Materie sind leer davon, aus sich heraus zu existieren. Da es kein Selbst-sein der Phänomene gibt, existiert auch kein Anders-sein.

Deshalb brauchen wir uns über Meinungsverschiedenheiten auch keinen Kopf zu zerbrechen, weil jedes vermeintlich eigenständige Anders-sein bereits in den beziehungsmäßigen Verbindungen enthalten ist.

In den fünf Übersetzungen werden verschiedene Umschreibungen für die These der Freiheit von einem Selbst-sein verwendet:
a) Der dem Zen nahestehende Inada interpretiert den Text mit den Worten: „In these relational conditions self-nature of entities cannot exist." (dt: In diesen Bedingungen kann eine Eigennatur nicht existieren.) Dies wirft unmittelbar die Frage auf, ob es eine Eigennatur irgendwo anders geben könnte?

b) Der dem Theravada nahestehende Kalupahana interpretiert mit der Konnotation: „self-nature is not evident" (dt: eine Eigennatur ist nicht offensichtlich) und es stellt sich die Frage, ob sie als nicht-offensichtliches Phänomen dennoch existieren könnte?

c) Der dem Mahayana nahestehende Garfield formuliert: „the essence of entities is not present in the conditions" (dt: die Essenz des Existierenden ist nicht in den Bedingungen gegenwärtig). Dies lässt offen, ob sie irgendwo anders gegenwärtig sein könnte?

d) In der deutschen Übersetzungen von Weber-Brosamer und Back wiederum wird interpretiert: „In so etwas wie Bedingungen ist Eigensein von Dingen nicht zu finden." Das provoziert zu Fragen: Was bedeutet „in so etwas wie Bedingungen"? Wenn es kein Eigen-sein in so etwas wie Bedingungen nicht zu finden ist, kann dies in anderem gefunden werden?

e) Der mit dem Buddhismus wenig vertraute Geldsetzer wiederum macht Anleihe bei westlichen Philosophen und interpretiert, dass eine „Substanzialität" in den Erscheinungen und ihren Ursachen nicht gefunden werden kann. Doch welche Bedeutung hat der Begriff Substanz, den wir in der Regel für Materielles verwenden?

An dieser Textstelle wird deutlich, dass alle Formulierungen unvollständig sein müssen. Sprache kann die Freiheit vom Selbst-sein kaum beschreiben. Sobald wir etwas benennen, beginnen wir Etwas mit einem Begriff zu fixieren. Durch dieses Fixieren entgleitet uns die beziehungsmäßige Abhängigkeit des Phänomens fast automatisch, denn jeder Begriff ist statisch und verschleiert die ständige und real stattfindende Veränderung. Eine Erscheinung ist im Moment einer begrifflichen Fixierung schon längst vergangen. Ein Begriff kann diese Veränderung nicht fassen und auch nicht aufhalten. Auch wenn wir versuchen, die eigene ständige Veränderung durch die Benennung mit einem Namen zu verschleiern, gelingt dies nicht. Es ist doch Unsinn, etwas, das 3,5 kg schwer und 45 cm lang ist mit dem gleichen Namen zu belegen wie etwas, das fünfzig Jahre später 90 kg schwer und 175 cm lang ist. In dieser Hinsicht existiert ein grundsätzliche Dilemma in jeder Kommunikation: Begriffe sind wie Krücken, um Unsagbares zu vermitteln.

Der große buddhistische Gelehrte Dsche Tsongkapa (1357 – 1419) erläuterte dies am Beispiel eines Keimlings, der aus Samen entsteht: „Der Zeitpunkt, wenn eine Wirkung entsteht, ist der Zeitraum des Entstehens. Der Zeitpunkt, wenn bereits etwas entstanden ist, ist die Zeit nach dem Entstehen. Sollte der Keimling bereits vor dem Entstehen bestehen, dann müsste er vor dem eigenen Entstehen vorhanden sein. Dann müsste er aber auch wahrnehmbar sein, was aber nicht der Fall ist. Zudem könnte der Keim dann nicht mehr entstehen, da er ja bereits vor seinem Entstehen existieren würde. Es folgt: Der Keimling existiert nicht aus sicher heraus und vor seiner Entstehung."1

Mit diesem dritten Vers fasst Nagarjuna seine Hauptthese, die er in allen Schriften anhand vieler Beispiele belegt, zusammen: Ein ontologisches Sein existiert nicht. Alle Überlegungen über „Sein und Zeit" (Heidegger) oder „Sein und Nicht-Sein" (Sartre) führen zur Annahme eines ontologischen Seins, das aus sich selbst heraus beschrieben und benannt, erfasst oder begriffen werden könnte. Nagarjuna zeigt auf, dass solche Ontologie schlicht eine Illusion ist. Hegel war der erste westliche Philosoph, der diesen Gedanken 1500 Jahre in seiner Phänomenologie des Geistes aufnahm.

Im zweiten Satz dieses Verses verwirrt Nagarjuna uns allerdings weiter: Wenn kein Selbst-sein gefunden werden kann, dann kann auch kein Anders-Sein gefunden werden. Damit unterstreicht er das Argument, dass nirgends ein ontologisches Sein gefunden werden kann. Weder ein Selbst-sein noch ein Nicht-Selbst-sein noch irgendein anderes Sein existieren aus sich heraus.

Nagarjuna regt mit dieser Sichtweise zu dem Denken an, den Begriff >>Sein<< nicht als statische ontologische Existenz zu erfassen, sondern als einen dynamischen Prozess. In diesem Sinne wirft er alle philosophischen Seins-Begriffe über Bord, an denen viele Philosophen sich seit Jahrhundert abarbeiten und versuchen, etwas von anderem Unabhängiges, Isoliertes, Losgelöstes, Abgegrenztes, Getrenntes, Grundlegendes zu finden. Doch dieser Versuch scheitert seit vielen Jahrhunderten, weil etwas inhärentes nicht unauffindbar ist. Weder einen unbewegten Beweger, noch eine durch die Leben schwirrende Seele.

Die Negation jedes Selbst-seins ist Nagarjunas zentrale Aussage, die die von ihm initiierten Lehre des Mahayana-Buddhismus prägt. In den nachfolgenden Kapiteln und Versen untersucht Nagarjuna das Leer-sein der Phänomene und liefert damit grundlegende Beweise der Selbstlosigkeit. In diesem Sinne sind die Verse 1.1 bis 1.3 Zusammenfassung und Einleitung seiner Untersuchung.

Vers 1.4

Einer Wirkung erzeugenden Kraft
ist weder eine beziehungsmäßige Bedingung zu eigen,
noch ist ihr dies nicht zu eigen.
Einer beziehungsmäßigen Bedingung
ist weder eine Kraft zur Erzeugung einer Wirkung zu eigen,
noch ist ihr dies nicht zu eigen.

The functional force does not inhere relational conditions, not does it not inhere them. The relational conditions, vice versa, do not inhere the functional force, nor do they not inhere it. (Inada 1970)

Activity is not constituted of conditions nor is it not non-constitutes of conditions. Conditions are neither constituted nor non-constituted of activity. (Kalupahana 1986)

Power to act does not have conditions. There is no power to act without conditions. (Garfield 1995)

Wirkkraft (kriya) hat keine Bedingung. Wirkkraft ist aber auch nicht ohne Bedingung. Und andererseits existieren Bedingungen weder ohne Wirkkraft noch mit Wirkkraft. (Weber/Back 1997)

Wirkungen läßt er (Aristoteles) infolge von Ursachen erzeugt werden, und er läßt sie infolge von etwas entstehen, was keine Ursache ist, d.h. einigen Ursachen schreibt er eine Wirkung zu, und einigen Ursachen schreibt er keine Wirkung zu. (Geldsetzer 2010)

Schlüssel-Begriffe:
kriya = functional force = activity = power to act = Wirkkraft = Wirkung erzeugende Kraft;
relational condition = condition = Bedingung = Ursache; (Not) inhere = (not) constituted of = (nicht) eigen sein.

Ausgehend von dem üblichen Dogma, dass Ursachen als Entitäten mit einem Selbst-sein ausgestattet seien, beginnt Nagarjuna seine Untersuchung mit der Analyse der Eigenschaften einer Wirkung erzeugenden Kraft (Sanskrit: kriya). Zunächst bestätigt er die gewöhnliche Alltagserfahrung, dass es Kräfte gibt, die eine Wirkung erzeugen: Schlage ich mit etwas auf eine Klangschale, entsteht ein Ton. Aber schon nach wenigen Worten weist er darauf hin, dass diesen Kräften – wie dem bewegten Klöppel, der Klangschale oder demjenigen, der die Bewegung ausführt - weder eine beziehungsmäßige Bedingung zu eigen ist, noch dass diesen Kräften keine beziehungsmäßige Bedingung zu eigen sind. Eine Wirkung erzeugende Kraft ist – wie alle Erscheinungen - ohne Selbst und ohne Nicht-Selbst.

Implizit argumentiert er: Wenn es ein Selbst einer Ursache gäbe, dann müssten wir dieses Selbst unabhängig von anderem finden können. Gäbe es ein Selbst des Klöppels, ein Selbst der Schale und ein Selbst des den Klöppel Bewegenden, dann müssten diese mit dem Entstehen der Wirkung – also dem Ton - weiter bestehen, weil Selbst-sein per Definition die Eigenschaft hat, von anderem – also auch von einer Wirkung – unabhängig zu sein und nicht vergeht. Gäbe es solches Selbst-sein, müsste der Ton mindestens drei verschiedene Selbst besitzen. Mit solcher strengen Logik führt er die These von der Eigenexistenz eines Selbst ad absurdum.

Nagarjuna konfrontiert uns letztlich mit der im gewöhnlichen Leben für richtig erachten Annahme, dass es irgendwo eine letzte Ursache oder einen absoluten Anfang geben müsste. So glauben viele an einen Schöpfergott, jenen Beweger, der die Dinge der Welt zu Beginn des Universums in Bewegung gesetzt haben soll, weil es für uns unvorstellbar ist, dass es keinen Anfang des Universums gegeben haben könnte. Es scheint, als hätten wir Menschen die Idee eines Anfangs des Universums geschaffen, um den Anfang des eigenen Lebens verstehen zu können. Es ist ja auch nur schwer vorstellbar, wie das eigene Leben begann und noch schwerer, wie es enden wird. Wir glauben, unsere Geburt und unser Geworfen-sein in das Leben nur verstehen zu können, wenn es grundsätzlich einen Anfang des Universums gibt. Vermutlich haben diese einfachen Fragen vor einigen Tausend Jahren zur Erschaffung der Idee eines Schöpfergottes geführt.

Weniger religiöse Menschen, die sich an naturwissenschaftlich Daten orientieren, versuchen die Frage nach dem Anfang allen Seins mit dem Glauben an den ersten Moment eines Ur-Knalls zu beantworten, während dessen das Universum erschaffen worden sei. Auch hier verwirklichen wir die Idee eines Anfangs. Doch je genauer die theoretischen Modelle für den sogenannten Ur-Knall werden, desto klarer wird: Es gab keinen Urknall und keinen Anfang.

Nagarjuna, statt mit Teleskopen, Teilchenbeschleunigern und anderen Messgeräten lediglich mit seinem Geist als Instrument ausgestattet, kommt bereits vor ca. 1800 Jahren zu der Erkenntnis, dass die Annahme eines Anfangs ein Selbst einer Erscheinung implizieren würde. Er weist dann – wie wir noch sehen werden – im Mulamadhyamakakarika mit logischen Argumenten nach, dass die Annahme eines Anfangs eine Illusion ist.

Allerdings, und darin liegt die besondere Qualität seines Denkens, macht er uns gleichzeitig klar, dass einer Wirkung erzeugenden Kraft dieses Selbst weder zu eigen ist, noch nicht zu eigen ist. Darin liegt die Bedeutung des Begriffs >>Mittlerer Weg<<: Es ist ein Weg, der zwischen den Extremen des Nihilismus – wonach alles ein Nichts ist - und des Eternalismus, wonach alles aus sich heraus existiert - entlang läuft.

Während Kalupahana, Garfield und Weber/Brosamer für die Idee einer Ursache den Begriff >>Bedingung<< verwenden, erweitert Inada diesen um die nähere Umschreibung >>beziehungsmäßig<<. Inada umschreibt sprachlich damit Nagarjunas Vorstellung, dass jede Bedingung, die von uns gewöhnlich als etwas Verursachendes wahrgenommen wird, nur als eine beziehungsmäßige Situation von momentan Existierendem und diversen Umständen verstanden werden kann. Nicht die Dinge an sich – Klöppel, Schale, Bewegender - sind Ursachen für Veränderungen, wie dem entstehenden Ton, sondern die Beziehungen der drei und vermutlich weiterer Elemente wie Luft, Temperatur, der Geist des den Klöppel Schlagenden usw. sind Bedingungen dafür, dass genau in diesem Moment kurzfristig die Luft in Bewegung gesetzt und ein Ton erzeugt wird. „Akzeptieren wir die Vorstellung eines Entstehens, müssen wir das simultane Vergehen der beziehungsmäßigen Bedingung und Entstehen einer Wirkung annehmen. Würden Ursache und Wirkung ein Selbst-sein besitzen, dann müssten sie gleichzeitig bestehen."2

Spielen wir Nagarjunas These von den >>beziehungsmäßigen Bedingungen<< am Beispiel der Bewegung eines Windrades durch: Ein Vertreter der These, dass den Erscheinungen ein Sein zu eigen sei, müsste annehmen, dass der Luft, die ein Windrad antreibt, die Eigenschaft der Bewegung zu eigen wäre. Doch dann müsste der nicht bewegten Luft bei Windstille entweder ein anderes Selbst zu eigen sein - was wir dann aber nicht mehr als ein Selbst der bewegten Luft bezeichnen könnten - oder die Luft in Ruhe hätte die gleiche Fähigkeit zum Antrieb eines Windrades wie die Luft in Bewegung, was jeder Beobachtung widerspricht. Mit solchen einfachen Überlegungen an sehr praktischen Dingen des Lebens wird Nagarjunas Argument verständlich: Die Bewegung des Windrades entsteht aus der relativen Bewegung der Luft zu den Flügeln des Windrades in einem spezifischen Moment und ist das Ergebnis einer multifaktoriellen Beziehung zwischen Luft und Flügel, die beide mit unzähligen anderen Faktoren in Beziehung stehen. Nur diese >>beziehungsmäßigen Bedingungen<< – bewegte Luft, Flügel des Windrades und vieles mehr – ermöglichen die Drehung des Windrades.

Man könnte argumentieren, dass der Begriff >>beziehungsmäßige Bedingung<< die Qualität eines weißen Schimmels hätte. Doch Inada unterstreicht sprachlich damit nur das Argument, dass unabhängige Entitäten als Ursachen für Erscheinungen nicht existieren. Diese Auffassung wird auch im zweiten Satz des Verses noch einmal hervorgehoben: Einer beziehungsmäßigen Bedingung ist weder eine Kraft zur Erzeugung einer Wirkung zu eigen, noch ist ihr dies nicht zu eigen. Sie ist – wie alles Existierende - ohne Selbst-sein.

Mit der Argumentation, dass einer Erscheinung weder ein Selbst noch ein Nicht-Selbst zu eigen ist, beugt Nagarjuna der nihilistischen Position vor, die von einem absoluten Ende der Erscheinungen ausgeht. Das implizit logische Argument lautet: Wenn es keinen Anfang einer Erscheinung geben kann, weil keiner Erscheinung ein Selbst zu eigen ist, dann existiert auch kein Ende von Erscheinungen. Die Negation eines Selbst, das Erscheinungen zu eigen sei, hat zur Folge, dass es weder ein Anfang noch ein Ende von Erscheinungen geben kann. Sowohl Nihilismus - mit dem Tod endet alles - als auch Eternalismus - wir haben ein ewiges Leben - sind unsinnige Denkkonstruktionen.

Bezogen auf das praktische Leben folgt: Weder Geburt als Anfang noch Tod als Ende des Lebens existieren. Diese Konsequenz verwirrt, sind Geburt und Tod doch tägliches Erleben. Doch Nagarjuna argumentiert: Wenn keiner Erscheinung ein Selbst zu eigen ist, dann kann es auch keinen Anfang bzw. Geburt und kein Ende bzw. Tod einer Erscheinung geben. Anders formuliert: Wären Geburt und Tod existent, dann müssten wir ein Selbst finden können.

Jedoch – wie wir in den nachfolgenden Untersuchungen sehen werden – weil wir kein Selbst-sein finden können, kann es auch keine Geburt und keinen Tod geben. Anfang und Ende sind Konstruktionen des Geistes, weil wir die Unendlichkeit der Veränderung nur schwer ertragen und lieber an die Endlichkeit des aktuellen Seins glauben.

Damit beweist Nagarjuna auch den zweiten Grundsatz des Buddhismus: Der Geist ist ohne Anfang und ohne Ende. Der Geist ist ein sich ständig veränderndes Kontinuum. Aus dem Beweis des Leer-seins aller Phänomene von inhärenter Existenz folgt unmittelbar die Unbegrenztheit des Geistes und damit die Grundlage des karmischen Gesetzes. In dieser Hinsicht sind Leer-sein von inhärenter Existenz, Unbegrenztheit des Geistes und Karma synonyme Formulierungen für das von Buddha entdeckte Abhängige Entstehen.

Vers 1.5

Nur wenn Dinge in einem einzigartigen Moment
in einer spezifischen Beziehung zueinander stehen,
können wir sie als beziehungsmäßige Bedingungen einer Wirkung bezeichnen.
Würde etwas nicht aus beziehungsmäßigen Bedingungen entstehen,
müssten wir dies dann nicht ein Entstehen aus Nicht-Bedingung nennen?

Only as entities are uniquely related and originated they can be described in terms of relational conditions. For, how can non-relational conditions be asserted of entities which have not come into being? (Inada 1970)

These are conditions, because depending upon them these (others) arise. So long as these (others) do not arise, why are they non-conditions? (Kalupahana 1986)

These give rise to those, so these are called conditions. As long as those do not come from these, why these are not non-conditions? (Garfield 1995)

Sie heißen Bedingungen, weil abhängig von ihnen etwas entsteht. Aber sind sie nicht vielmehr Nicht-Bedingungen, solange nichts durch sie entsteht? (Weber/Back 1997)

Wenn es eine Erscheinung ist, die eine Wirkung erzeugt, dann nennt er diese Erscheinung Ursache. Würde die Wirkung noch nicht erzeugt, warum sollte man dann nicht sagen, dass sie gar keine Ursache ist? (Geldsetzer 2010)

Schlüssel-Begriffe:
entities = these = others = etwas = Dinge = Erscheinung
relational conditions = conditions = Bedingungen= Ursachen

Im fünften Vers analysiert Nagarjuna die Eigenschaften von beziehungsmäßigen Bedingungen: Nur wenn Erscheinungen „in einem einzigartigen Moment in einer spezifischen Beziehung zueinander stehen", können wir diese als „beziehungsmäßige Bedingung", die eine Wirkung erzeugen, bezeichnen.

Als Argumentation für diese Feststellung greift er wieder auf Alltagserfahrungen zurück: Würde eine Wirkung aus Erscheinungen entstehen, die nicht zueinander in Beziehung stehen, dann müssten wir dies als ein Entstehen ohne Bedingung bezeichnen. Wir müssten annehmen, dass eine Erscheinung ohne Grund, wie vom Himmel fallend, entsteht. Das aber widerspricht ganz offensichtlich jeder Erfahrung. Hieraus folgert er: Weil alle Phänomene immer aus Ursachen entstehen, die allerdings kein Selbst-sein besitzen, können Ursachen nur als beziehungsmäßige Bedingungen verstanden werden, die selbst wiederum nur eine Folge vorheriger beziehungsmäßiger Bedingungen sein können.

Bedingung-sein oder im alltäglichen Sprachgebrauch Ursache-sein ist lediglich die Charakterisierung einer momentanen Relation von momentan Existierendem. Diese spezifische Relation zieht das noch zu Bewirkende, also etwas noch nicht Existierendes, bereits mit ein, weshalb manche buddhistische Schulen und westliche Philosophen zu dem Trugschluss kommen, dass den Ursachen die zukünftigen Wirkungen bereits inne wären. Ihr Argument mündet in die Frage: Wie kann eine Ursache etwas Unbekanntes bewirken, wenn der Ursache die zukünftige Wirkung nicht bereits zu eigen wäre?

Das ist eine berechtigte Frage, die allerdings einen wesentlichen Denkfehler enthält: Dass jedem Entstehenden und jeder vorausgehenden Ursache ein Selbst-sein zu eigen wäre. Das wiederum impliziert, dass zu irgendeinem fernen Zeitpunkt eines Anfangs, wie beispielsweise während eines angenommenen Urknalls, jede zukünftige Wirkung festgestanden hätte. Die Annahme eines Selbst-sein von Ursachen führt unmittelbar zu einem absoluten Determinismus. Das allerdings ist erneut ein Widerspruch zu unseren Alltagserfahrung.

Aus der einfachen realen Beobachtung, dass Wirkungen immer in Beziehung zu ihren Ursachen stehen, folgert Nagarjuna, dass die Beziehung das Wesen jedes Entstehens ist. Denn: Würde die Wirkung außerhalb dieser Beziehung stehen, dann könnten Wirkungen aus Nicht-Bedingungen entstehen können.

Die Bedeutung beziehungsmäßiger Bedingungen wird mittlerweile auch durch die moderne Teilchenphysik bestätigt. So beschreibt die theoretische Physik keine Partikel oder Teilchen von Atomkernen im gewöhnlichen Sinne, die wie kleinste Kugeln oder Staubteilchen mit einem eigenen Sein umherschwirren würden. Vielmehr sind die theoretischen Physiker der Quantenmechanik in ihren mathematischen Modellen zu dem Ergebnis gelangt, dass bei der Suche nach dem durchaus gewöhnlichen Phänomen Masse, diese als eine Eigenschaft von Atomteilchen nicht gefunden werden kann. Selbst die kleinsten atomaren Teilchen sind im Wesentlichen ohne Masse. Doch woher kommt dann das in der realen Welt spürbare Gewicht von Dingen? Da die mathematischen Modelle der Teilchenphysik eine Masse an sich nicht finden können postulierte in den 1960er Jahren der Physiker Higgs in seiner Feldtheorie, dass die Masse eines Atomteilchen – und damit aller Materie - erst aus einer Bewegungsbeziehung von mathematisch beschreibbaren Kraftfeldern entsteht. Masse kann in diesem Modell nur dann wahrgenommen werden, wenn eine Erscheinung sich in relativer Bewegung zu einer anderen Erscheinung befindet. Ohne Bewegung der Kraftfelder ist eine Erfahrung von Masse unmöglich.

Mit den Experimenten am Teilchenbeschleuniger CERN wurden Higgs mathematische Konstruktion in weiten Teilen bestätigt. Allerdings ist der Begriff Teilchen irreführend. Denn bei allen Überlegungen auf dieser Ebene müssen wir mit denken, dass wir die Materie, wie wir sie aus der Alltagserfahrung her kennen, längst verloren haben und es sich vielmehr um mathematische Konstruktionen von Wahrscheinlichkeitsräumen und Beziehungen handelt. Wenn wir also überhaupt etwas als Ursache bezeichnen möchten, dann können wir dies nur als beziehungsmäßige Bedingung erfassen.

Vers 1.6

Eine beziehungsmäßige Bedingung ist
weder etwas Existierendem noch etwas Nicht-Existierendem zu eigen.
Denn wenn etwas nicht existiert, wie kann es eine Bedingung enthalten?
Und wenn etwas bereits existiert,
für was braucht es dann noch eine Bedingung?

Relational condition does not validly belong to either being or not-being. If it belongs to being, for what use is it? And if to non-being, for whose use is it? (Inada 1970)

A condition of an effect that is either non-existent or existent is not proper. Of what non-existent effect is a condition? Of what use is a condition of the existent effect? (Kalupahana 1986)

For neither an existent nor a non-existent thing is a condition appropriate. If a thing is non-existent, how could it have a condition? If a thing is already existent, what would a condition do? (Garfield 1995)

Weder für eine nicht existierende noch für eine existierende Sache trifft eine Bedingung zu: Wenn etwas nicht existiert, wessen ist dann die Bedingung? Wenn es existiert, wozu dann noch eine Bedingung? (Weber/Back 1997)

Dass die Wirkung vorher in der Ursache enthalten ist und nicht enthalten ist, kann nicht nebeneinander der Fall sein. Ist sie vorher nicht darin, für was wäre sie Ursache? Ist sie vorher darin, warum braucht es da eine Ursache? (Geldsetzer 2010)

Schlüssel-Begriffe:
(not) being = effect = (non) existent thing = (nicht) existierende Sache = Wirkung
relational conditions = conditions = Bedingungen= Ursachen

Nachdem wir im Vers 1.5 gelernt haben, dass eine Ursache immer eine beziehungsmäßige Bedingung ist, untersucht Nagarjuna, ob diese beziehungsmäßige Bedingung den existierenden oder nicht-existierenden Erscheinungen inne wohnt und damit eine andere Art von Selbst-sein begründet. Denn es könnte ja sein, dass genau diese beziehungsmäßige Bedingung ein Selbst-sein ermöglicht. Wieder ist seine Logik verblüffend einfach:

a) Wenn etwas nicht existiert, wie kann es dann noch eine beziehungsmäßige Bedingung sein? Jede Aussage über ein Selbst-sein von etwas Nicht-Existierendem ist sinnlos.

b) Im Fall des Existierenden stellt er sich die einfache Frage, welchen Sinn es haben könnte, dass diesem eine beziehungsmäßige Bedingung zu eigen wäre? Die Argumentation zur Beantwortung dieser Frage lautet: Wenn eine Ursache ein unabhängiges Selbst-sein besäße, dann müsste sich zwangsläufig dieses Selbst-sein auf die Wirkung übertragen, weil jedes Selbst-sein per Definition eine nicht-zerstörbare Eigenschaft ist. Die Wirkung müsste also das Selbst-sein ihrer Ursache in sich tragen. Das wiederum steht in Widerspruch zur Realität, da Ursache und Wirkung nicht identisch, sondern verschieden sind.

Zusammenfassend ergibt sich: Weil Ursache und Wirkung immer verschieden sind, ist ihnen kein Selbst-sein zu eigen.

Vers 1.7

Wenn Erscheinungen weder aus Existierendem
noch aus Nicht-Existierendem und
auch nicht aus zugleich Existierendem und Nicht-Existierendem entstehen,
wie kann man dann noch von Ursachen reden?
Wenn es solche Ursachen gäbe, wären sie sinnlos.

When a factor of experience does not evolve from being, non-being, nor from both being and non-being, how can there be an effectuating cause? Thus (such) a cause is not permissible. (Inada 1970)

Since a thing that is existent or non-existent or both is not produced, how pertinent in that context would a producing cause be? (Kalupahana 1986)

When neither existents nor non-existents nor existent non-existents are established, how could one propose a "productive cause"? If there were one, it would be pointless. (Garfield 1995)

Wenn sich weder ein existierender, noch ein nicht existierender, noch ein zugleich existierender und nicht existierender Dharma entfaltet, welche Bedeutung könnte dann nämlich, bei dieser Sachlage, ein Grund (hetu) haben, der ihn entfaltet? (Weber/Back 1997)

Gäbe es für die Wirkung weder eine Erzeugung noch auch Nichterzeugung und auch nicht Erzeugung und Nichterzeugung zugleich, wie könnte man dann davon reden, dass sie Ursachen hat? (Geldsetzer 2010)

Schlüssel-Begriffe:
factor of experience = thing = (non) existents = Dharma = Wirkung
hetu = effectuating cause = producing cause = productive cause = Grund = Ursache

Vers 1.7 kann in zweierlei Hinsicht verstanden und interpretiert werden:

a) Einerseits kann dieser Vers verstanden werden als Argumentation eines Einwandes: Wenn keine Erscheinung aus Existierendem oder Nicht-Existierenden oder aus beiden entstehen kann, wie kann man dann noch von einer Ursache sprechen, die wir doch alle als Alltagserfahrung kennen. Aus diesem Widerspruch zwischen der Alltagserfahrung und der grundlegenden These Nagarjunas könnte jemand ableiten, dass Nagarjunas Argumentation falsch sein müsse.

b) Doch tatsächlich formuliert Nagarjuna listig nur die logische Konsequenz aus Vers 1.6: Wenn weder etwas Existierendem noch etwas Nicht-Existierendem und damit auch etwas, das aus beiden bestehen könnte, kein Selbst-sein zu eigen ist, dann ist es sinnlos, überhaupt noch von Ursachen als eigenständigen Entitäten zu sprechen.

Nagarjuna geht - wie so oft in seinen Argumentationen - von der Alltagserfahrung aus, dass es Zusammenhänge zwischen Ursachen und Wirkungen gibt. Gerade weil diese Zusammenhänge existieren, so sein Argument, müssen wir annehmen, dass die vermeintlichen Ursachen oder beziehungsmäßigen Bedingungen kein Selbst-sein besitzen können. Man könnte auch in sophistischem Sinne formulieren: Weil wir Ursachen beobachten, existieren Ursachen nicht aus sich heraus.

Nagarjuna lehnt nicht die Existenz von jeglicher Ursache oder Bedingung ab, sondern negiert nur, dass ihnen ein Selbst-sein zu eigen ist - eben weil alles aus ursachenbedingten Zusammenhängen existiert. Wenn wir versuchen, ein solches Selbst-sein zu finden, bleibt dieser Versuch erfolglos. Ein Selbst-sein, den Kern oder die Essenz einer Erscheinung, die nur diesem zu eigen ist, kann nicht gefunden werden. Dies ist die Bedeutung des Begriffs Selbst-Losigkeit.

Vers 1.8

Es wird behauptet, dass ein Geistesmoment ohne ein Objekt entsteht.
Wenn dem so ist, wofür braucht es dann noch eine Objekt-Bedingung?

It is said that a true factor of experience does not have an appropriating or objectively extending relational condition. If it does not exist, then again, wherein is this type of relational condition? (Inada 1970)

A thing that exists is indicated as being without objective support. When a thing is without objective support, for what purpose is an objective support? (Kalupahana 1986)

An existent entity (mental episode) has no object. Since a mental object is without an object, how could there be any percept-condition? (Garfield 1995)

Es wird gelehrt, dass der Dharma als physischer Prozess unabhängig von seiner Objekt-Stütze existiert. Wenn aber der Dharma ohne Stütze existiert, warum dann noch die Stütze? (Weber/Back 1997)

Solange sie (die Ursache) die Wirkung noch nicht erzeugt hätte, dürfte sie nicht vergehen. Ist sie aber als Erscheinung vergangen, wie könnte sie etwas verursachen? Daher gibt es keine materiellen Ursachen. (Geldsetzer 2010)

Schlüssel-Begriffe:
true factor of experience = a thing that exist = existent entity (mental episode) = Dharma = Wirkung
no objectively extending relational condition = without objective support = existent entity has no object = ohne Objekt-Stütze existiert = keine materiellen Ursachen

Ab dem Vers 1.8 untersucht Nagarjuna schrittweise die vier Arten der verursachenden Bedingungen, die in Vers 1.3 aufgelistet wurden. Zunächst widerspricht er mit seiner These, dass ein Geistesmoment ohne Objekt-Bedingung möglich ist, den grundlegenden Annahmen der seinerzeitigen buddhistischen Lehren. Diese gingen davon aus, dass externe Objekte notwendig sind zur Entstehung von geistigen Erfahrungen. So wird im Abhidharma beschrieben, dass ein Seh-Bewusstsein nur in Abhängigkeit von Augen und sichtbaren Formen entsteht. Objekte sind damit Bedingung für eine wahrnehmende Erfahrung.3 Diese Subjekt-Objekt Theorie führt zur Trennung von Subjekt und Objekt - also zu jener Dualität von Subjekt und Objekt, die uns seit vielen Jahrtausenden beschäftigt. Nagarjuna erkennt in der Dualität die Ursachen für die meisten Konflikte und schädigenden Emotionen.

Schauen wir uns dies an einem Beispiel an: Die oberflächliche Theorie geht davon aus, dass Geistes-Momente nur aufgrund einer Subjekt-Objekt-Bedingung entstehen können, beispielsweise dass es eines unabhängig und eigenständig existierenden Baumes bedarf, damit der Geist einer Person diesen Baum wahrnehmen kann.

Um diese gewöhnliche Annahme zu widerlegen, argumentiert Nagarjuna, dass viele Gedanken – wie beispielsweise die Vorstellung von einer Zahl – ohne ein äußeres Wissens-Objekt entstehen. Wir mögen zwar bei der Zahl Zwei recht spontan an zwei Finger oder zwei anderen Dingen als Bild vor unserem geistigen Auge sehen. Aber die Idee >>Zwei<< ist vollständig abstrakt und entsteht ohne äußeres Objekt. Hierauf wies später auch Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft hin und argumentierte, dass solange wir bei der Zahl Zwei nur in Form von Bildern bleiben, ein Verständnis von Mathematik nicht möglich ist. Erst wenn wir die Abstraktionen – als die Loslösung von Objekten – mit dem Geist verstehen, werden die Sprache der Mathematik und ihre Logik verständlich.

Meditieren wir über eine abstrakte Idee, entsteht eine intuitive Wahrnehmung. Beispielsweise kann die Betrachtung eines Gemäldes oder das Hören einer Komposition eine Flut an intuitiven Assoziationen auslösen, die zwar in Beziehung zum Gesehenen oder Gehörten stehen, aber mit dem Konkreten des Gesehenen oder Gehörten kaum mehr etwas gemein haben. Vielmehr stören Sehen oder Hören den Geist ab einem gewissen Grad der Konzentration, weshalb es bei vielen solchen Momenten sinnvoll ist, die Augen zu schließen und sich ganz dem Geistesstrom hinzugeben.

Da Nagarjuna intensive Meditationserfahrungen hatte wusste er, dass bei einem Geistesstrom kein Objekt mehr erforderlich ist. Es ist vielmehr die Information, die bereits in unserem Geist vorhanden ist, die den weiteren Geisteszustand bestimmt. Nagarjuna argumentiert daher, dass, wenn wir einen Baum als äußeres Objekt sehen, wir auf diesen Baum unsere objektunabhängige Idee eines Baumes projizieren. Die Idee über einen Baum ist bereits als abstrakte Hypothese in unserem Geist vorhanden und wenn wir dann einen Baum sehen, vergleichen wir die Idee mit dem eingehenden Bild.

Diese Sichtweise entspricht auch den Ergebnissen der modernen Gehirnforschung4: In unserem Gehirn existiert bereits vor jeder Wahrnehmung eine Informationen über das noch Wahrzunehmende. Die bereits vorhandenen Hypothesen vergleichen wir mit den eingehenden Signalen, die über Augen, Ohren und den anderen fünf Sinnen in unseren Geist einlaufen und werden entweder bestätigt, verworfen oder modifiziert. Wenn wir uns intensiv selbst beobachten, stellen wir beispielsweise fest, dass wir immer Bilder, die in unserem Geist schon vorhanden sind, auf Menschen, die wir treffen, projizieren. Wir sehen einen bestimmten Gesichtsausdruck und projizieren darauf eine vergangene Erfahrungen – Vater- oder Mutterbilder, gute oder schlechte Erfahrungen, Nähe oder Ferne. Wazlawik hat dies in seiner Parodie über den Mann, der vom Nachbarn einen Hammer ausleihen möchte, besonders drastisch karikiert. Und auch der im Westen hochverehrte Albert Einstein stellte nüchtern fest: „Erst die Theorie entscheidet darüber, was man beobachten kann."5

Die These einer Objekt-Bedingung für einen Geistesmoment entspricht daher eher einer naiven, mechanistischen Vorstellung von Wahrnehmung, als würde der Lichtstrahl eines Blattes oder einer Haarsträhne in uns ein ursprünglich neues Signal und damit einen Geistesmoment auslösen können. Diese einfachen Sender-Empfänger-Modelle verschleiern, dass in unserem Geist bereits Erfahrungen abgespeichert sind, die wir als abstrakte Bilder auf aktuell Gesehenes projizieren. In diesem Sinne argumentiert Nagarjuna wie Platon in seinem
Höhlengleichnis, in dem er uns vermitteln möchte, dass wir die sogenannte Wirklichkeit nur als Projektion unseres Geistes in einer Höhle wahrnehmen, während eine Wesenheit der Dinge unauffindbar ist und grundsätzlich nicht existiert.

Wir können an dieser Stelle den berechtigten Einwand formulieren, dass doch auch die Hypothesen in unserem Geist irgendwann entstanden sein müssen. Es mag ja sein, dass wir abstrakte Bilder auf aktuell Gesehenes projizieren, aber woher kommen diese abstrakten Bilder? An dieser Stelle würde Nagarjuna vermutlich argumentieren, dass die abstrakten Bilder aus vorherigen Erfahrungen, also vorherigen Geistesmomenten entstanden sind. Wie bei allen Erfahrungen, ob vergangenen oder gegenwärtigen, ist die Beziehung zur Umwelt bzw. in der buddhistischen Sprache das Karma entscheidend, wodurch Geistesmomente geprägt werden. Denn auch diese Geistesmomente entstehen weder aus dem Nichts noch ist ihnen ein Selbsts-sein zu eigen. In diesem Sinne lehnt Nagarjuna sowohl die These einer rein geistigen Welt, die von der buddhistischen Nur-Geist-Schule vertreten wird, ebenso ab, wie die These einer Objekt-Bedingung für einen Geistesmoment, wie sie im Abhidharma formuliert wird - er formuliert seinen dritten, mittleren Weg.

Geldsetzer kommt dieser idealistischen Interpretation sehr nahe, weil er als gut ausgebildeter westlicher Philosoph die griechischen Philosophen sehr gut kennt. Seine Übersetzung des chinesischen Textes, der als ältester Text der verschiedenen Textversionen noch existiert, aber über die Jahrhundert durch leichte Veränderungen der Schriftzeichen bei jeder Übertragung sicherlich eine Interpretationsveränderung erfahren hat, argumentiert auf zwei Ebenen:

a) Solange eine Ursache eine Wirkung noch nicht erzeugt hat, ist sie immer noch eine Ursache und dürfte als solche noch nicht vergangen sein. Denn wäre sie zu dem Zeitpunkt, an dem die Wirkung noch nicht erzeugt worden ist, keine Ursache mehr, dann wäre es sinnlos, solche Erscheinung überhaupt als Ursache zu bezeichnen. Doch weil Materielles ständig vergeht, kann eine Ursache nicht materiell sein.

b) Ist eine Ursache als materielle Erscheinung vergangen, dann ist es sinnlos, noch von einer materiellen Ursache zu sprechen, da sie längst vergangen ist.

In beiden Fällen – der noch nicht wirksam gewordenen Ursache und der bereits wirksam gewordenen Ursache - ist die Annahme einer materiellen Objekt-Ursache mit einem Selbst sinnlos.

Garfield hingegen argumentiert eher auf der Ebene der Abhidharma Tradition, wenn er in seinem Kommentar schreibt, dass zum Zeitpunkt der Wahrnehmung eines Lichtsignals, das von einem Objekt ausgesandt wurde, das Objekt schon längst vergangen sei, weil alle Objekte sich in kürzester Zeit verändern und daher die Objekt-Bedingung für die Wahrnehmung ebenfalls schon vergangen sei. Er bleibt auf der Ebene einer Subjekt-Objekt-Beziehung. Ein solches eher technisches Argument hätte Nagarjuna nicht geführt.

Vers 1.9

Wenn etwas noch nicht entstanden ist, ist dessen Beendigung nicht möglich.
Daher ist es sinnlos, eine vorausgehende Bedingung anzunehmen.
Denn wenn etwas vergangen ist, was soll dann noch als vorausgehende Bedingung
dem Vergangenen zu eigen sein?

It is not possible to have extinction where factors of experience have not yet arisen. In an extinguished state, for what use is a relational condition? Thus the sequential or contiguous relational condition is not applicable. (Inada 1970)

When things are not arisen (from conditions), cessation is not appropriate. When (a thing has) ceased, what is (it that serves as) a condition? Therefore, an immediate condition is not proper. (Kalupahana 1986)

Since things are not arisen, cessation is not acceptable. Therefore, an immediate condition is not reasonable. If something has ceased, how could it be a condition? (Garfield 1995)

Wenn Dharmas nicht entstanden sind, ist auch deren Vernichtung (norodha) nicht möglich. Deswegen trifft die Bedingung eines unmittelbar Vorausgehenden (anantara) nicht zu. Und welche Bedingung könnte in etwas Vernichtetem liegen. (Weber/Back 1997)

Nach der Erklärung aller Buddhisten, besteht die Wirklichkeit aus wunderbar-geheimnisvollen Erscheinungen, und zwar ursachelosen Erscheinungen. Wie gäbe es da Wirkursachen? (Geldsetzer 2010)

Schlüssel-Begriffe:
extinction = cessation = Vernichtung; factor of experience = thing = Dharma = Erscheinungen
sequential or contiguous relational condition = immediate condition = vorausgehende Bedingung = Wirkungsursachen

Nachdem Nagarjuna im Vers 1.8 die Notwendigkeit einer Objekt-Bedingung widerlegt hat, analysiert er die Existenz vorausgehender Bedingungen, die einem Entstehenden voraus gehen. Wieder weist er zunächst auf eine einfache Alltagserfahrung hin: Wenn etwas noch nicht entstanden ist, kann es noch nicht vergangen sein. Das ist logisch und einfach. Aber inwiefern ist dies ein Argument gegen die Existenz einer vorausgehenden Bedingung, die einer Wirkung voraus gehen soll?

Die Idee eines Selbst-sein einer vorausgehenden Bedingung impliziert, dass sie Teil der Wirkung ist. Schlage ich mit einem Klöppel auf eine Klangschale, dann soll diese vorausgehende Bedingung Aspekt des erzeugten Tons sein.

Denken wir nun über das Argument nach: Noch-nicht-Entstandenes kann keine Ursache einer Wirkung sein, die eine Beendigung des Noch-nicht-entstandenen wäre, da beides noch nicht existiert. Da also das Noch-nicht-entstandene dem Beendeten vorausgeht, ist die Annahme, dass dieses Noch-nicht-entstandene eine vorausgehende Bedingung sei, sinnlos.
Wenden wir diese auf alle Dinge an, die zu einem spezifischen Zeitpunkt x noch nicht existiert haben und zu einem Zeitpunkt y beendet sein werden, dann können wir allgemein folgern, dass die Annahme einer vorausgehenden Bedingung unsinnig ist. Denn begrenzen wir den zeitlichen Rahmen für eine hypothetisch vorausgehende Ursache nicht, dann müsste auch etwas Noch-nicht-entstandenes als solche vorausgehende Bedingung fungieren können. Aber dies ist ein eklatanter Widerspruch zur Alltagserfahrung.

Für das Beispiel gilt: Wenn der Ton vergangenen ist, ist es sinnlos anzunehmen, dass dem vergangenen Ton irgendeine Bedingung zu eigen ist.

Im zweiten Teil seiner Argumentation prüft er diese These aus der Perspektive des bereits Vergangenen: Wenn etwas vergangen ist, dann kann diesem Vergangenen ein Selbst-sein nichts mehr zu eigen sein, denn es ist ja vergangen. Damit kann diesem Vergangenen auch keine vorausgehende Bedingung mehr zu eigen sein. Wieder bezieht sich sein Argument darauf, dass weder das Vergangene noch dessen vorhergehende Zustände ein Selbst-sein zu eigen ist.

Im Alltag sind wir geneigt, den Ursachen ein Selbst-sein zuweisen. So glauben wir beispielsweise, dass ein Klöppel, eine Klangschale und ein Mensch vorausgehende Bedingungen zur Erzeugung eines Tones seien, die eigenständig sind und ein je individuelles Selbst-sein besitzen und so einen kausalen Ursachenkomplex formen, deren Wirkung der erzeugt Klang ist. Doch wären diesen drei Ursachen ein individuelles Selbst-sein zu eigen, dann müssten sie auch eigenständige Ursache für einen vergangenen Ton sein können, denn dies ist ja der Zustand nach dem erklingen des Tones. Logisch würde sich dann ergeben, dass diese drei scheinbar selbst-ständigen Ursachen – Klöppel, Klangschale, Mensch – Ursachen für die Stille des Raumes wären. Hieraus würde folgen, dass alles Existierende und Nicht-Existierende selbst-ständige Ursachen für die Stille des Raum darstellen. Doch so weit gefasst wird der Begriff Ursache absurd, weil in dieser generalisierten Weise keine kausalen Beziehungen mehr existieren.

Die Konsequenz ist: Weil wir kausale Beziehungen in jedem Prozess des Lebens erkennen, existieren keine eigenständigen, mit einem Selbst-sein ausgestatteten vorausgehenden Ursachen oder Bedingungen.

Vers 1.10

Wenn Erscheinungen ohne Selbst nicht existieren würden,
träfe die Behauptung: „Wenn dies existiert, wird jenes" nicht zu.

As entities without self-nature have no real status of existence, the statement, "from the existence of that this becomes," is not possible. (Inada 1970)

Since the existence of existents devoid of self-nature is not evident, the statement: "When that exists, this comes to be," will not be appropriate. (Kalupahana 1986)

If things did not exist without essence, the phrase, „when this exists, so this will be," would not be acceptable. (Garfield 1995)

Weil die Existenz von Dingen ohne Eigensein nicht zu finden ist, trifft auch der Satz nicht zu: „Wenn diese existiert, wird jenes." (Weber/Back 1997)

Die Erscheinungen sind keine Substanzen, weil sie keine Seins-Merkmale besitzen. Die Behauptung, dass eine Sache deswegen existiert, weil es eine andere Sache gibt, ist nicht richtig. (Geldsetzer 2010)

Schlüssel-Begriffe:
Entities = existents = things = Dinge = Erscheinungen
Self-nature = essence = Eigensein = Seins-Merkmale
No real status of existence = not evident = not exist = nicht zu finden = keine Seins-Merkmale besitzen

Hier nun bezieht sich Nagarjuna aus Buddhas Aussage: „Wenn dies existiert, wird jenes", und setzt zum generellen Widerspruch gegen die Sichtweise der anderen buddhistischen Schulen an. Buddha hat die Alltagserfahrung einer Kausalität genutzt, um das ständige Entstehen, Bestehen und Vergehen von Dingen und Lebewesen, die offensichtliche Metamorphose aller Erscheinungen zu beschreiben. Nichts bleibt wie es war. Jede Form einer Existenz vergeht schon im nächsten Moment. Sogar die Erde und das Universum verändern sich in rasantem Tempo. Eine fast banale Weisheit.

Nagarjuna nutzt diese Weisheit zur Begründung der Negation des Selbst-sein und argumentiert: Wenn Erscheinungen ohne Selbst-sein nicht existieren würden – was seine Gegner ihm entgegen halten – dann würde Buddhas Weisheit und die Weisheit der Alltagserfahrung nicht mehr gelten. Er greift damit besonders jene an, die Buddhas Worte wörtlich nehmen und daraus ein Selbst-sein der Dinge in der Form ableiten, dass alle Erscheinungen ein Selbst zu eigen sei und sie erst aufgrund dieses Selbst als Ursachen wirksam werden könnten.

Nagarjuna dreht die Argumentation der sogenannten Realisten um und hält dagegen: Weil den Erscheinungen kein Selbst zu eigen ist, ist Veränderung überhaupt erst möglich. Sein implizites Argument, dass er in späteren Versen an verschiedenen Beispielen verdeutlich lautet: Selbst-sein bedeutet, dass etwas eine unvergängliche, von anderem unabhängige Essenz besitzt. Wäre jedoch einer Erscheinung ein solches Selbst zu eigen, dann könnte eine sie weder wirksam werden, noch könnte sie vergehen, denn Selbst-sein impliziert Unvergänglichkeit. Entstehen, Bestehen und Vergehen sind nur möglich, wenn Erscheinungen ohne Selbst-sein existieren.

Vers 1.11

Wirkungen existieren weder unabhängig von beziehungsmäßigen Bedingungen
noch sind sie in ihnen bereits enthalten.
Wenn beides nicht der Fall ist, wie kann überhaupt etwas
aus beziehungsmäßigen Bedingungen entstehen?"

The effect (arisen entity) does not exist separated from relational condition nor together in relational condition. If it does not exist in either situation, how could it arise out of relational condition? (Inada 1970)

The effect does not exist in the conditions that are separated or combined. Therefore, how can that which is not found in the conditions come to be from the conditions? (Kalupahana 1986)

In the several or united conditions the effect can not be found. How could something not in the conditions come from the conditions? (Garfield 1995)

Weder in einzelnen noch in miteinander verbundenen Bedingungen existiert die Frucht. Aber wie könnte aus Bedingungen etwas werden, was nicht schon in ihnen liegt? (Weber/Back 1997)

In den einzelnes umfassenden Formursachen Wirkungen zu suchen, kann nicht gelingen. Gäbe es in den Formursachen keine, wie sollten sie infolge von Ursachen hervortreten? (Geldsetzer 2010)

Schlüssel-Begriffe:
effect = arisen entity = Frucht = Wirkung
relational condition = condition = Bedingung = Formursache

In den folgenden drei Versen 1.11-1.13 gibt Nagarjuna seinen Widersachern Raum, wobei er ihre Argumente so führt, dass sie implizit seine Sichtweise stützen:

a) Folgen wir den Übersetzung von Kalupahana, Garfield bzw. Weber-Brosamer, dann würde jemand, der gegen Nagarjuna argumentiert, in einer Debatte vermutlich formulieren: „Du behauptest also, dass weder in einzelnen noch in gemeinsamen Bedingungen das Selbst einer Wirkung gefunden werden könnte. Aber wie könnte aus Bedingungen etwas entstehen, was nicht schon in ihnen angelegt wäre?" Dies ist die alte These, dass in den Ursachen bereits ein Keim für das zukünftig Bewirkte existieren müsste.

b) Folgen wir den Übersetzungen von Inada, dann würde die Argumentation mit einer leichten Nuance etwas anders verlaufen: „Du behauptest also, dass eine Wirkung weder unabhängig von den beziehungsmäßigen Bedingungen noch in diesen existiert. Aber wie könnte aus beziehungsmäßigen Bedingungen etwas entstehen, das nicht schon in ihnen angelegt wäre?"

An diesem Beispiel wird der Unterschied und die Bedeutung sprachlicher Interpretationen in Übersetzungen sichtbar: Obwohl alle vier sich auf tibetische Versionen des Textes beziehen, sind ihre Interpretationen verschieden. A) Kalupahana, Garfield und Weber-Brosamer fokussieren sich darauf, dass weder in einzelnen noch in gemeinsamen Ursachen das Selbst einer Wirkung gefunden werden kann. B) Der dem Zen nahestehende Inada lässt Nagarjunas Widersacher vortragen, dass eine Wirkung weder unabhängig von einer Ursache existiert, noch in dieser bereits vorhanden ist.

Mir scheint, dass mit Blick auf Nagarjunas bisherigen Argumentationsverlauf Inadas Interpretation schlüssiger ist, weil sie Nagarjunas Denkweise aus Vers 1.1 unterstützt, die man mit dem kurzen Paradoxon umschreiben könnte: Nichts entsteht aus Ursachen, aber auch nicht ohne solche.

Es bleibt aber die Frage im Raum stehen: Wie kann etwas aus Bedingungen entstehen? Um dies zu ergründen formuliert er Vers 1.12, den man als Frage einer Person auffassen kann, die gegen Nagarjuna argumentiert:

Vers 1.12

Wenn Wirkungen aus
Bedingungen entstehen können,
die nicht in diesen bereits angelegt sind,
warum sollte es dann nicht möglich sein,
dass Wirkungen aus nicht-Bedingungen entstehen?

Now then, if non-entity arises from these relational conditions, why is it not possible that the effect (i.e. arisen entity) cannot arise from non-relational conditions? (Inada 1970)

If that effect, being non-existent in the conditions were to proceed from the conditions, why does it not proceed from non-conditions? (Kalupahana 1986)

However, if a non-existent effect arises from these conditions, why does it not arise from non-conditions? (Garfield 1995)

Doch falls, obgleich sie nicht in ihnen existiert, die Frucht sich aus Bedingungen entwickelt, warum dann nicht, dass sie aus Nicht-Bedingungen entsteht? (Weber/Back 1997)

Würde man etwas Ursache nennen, das keine Wirkung hat, die mitten aus der Ursache hervorgeht, warum sollte die Wirkung nicht aus etwas hervorgehen, was keine Ursache ist?
(Geldsetzer 2010)

Schlüssel-Begriffe:
(non) entity = effect = (non) existent effect = Frucht = Wirkung
relational condition = condition = Bedingung = Ursache

Diese Frage enthält wieder das Argument, dass eine Wirkung bereits in den Bedingungen angelegt sein muss. Denn wäre dies nicht der Fall, so Nagarjunas Widersacher, dann könnten Wirkungen auch ohne jegliche Bedingung entstehen.

Das ist ein starkes Argument: Wären Wirkungen von Bedingungen unabhängig, dann könnten sie tatsächlich auch aus willkürlichen anderen Aspekten entstehen, die keine Bedingung für Wirkungen sein können. Ist jener Flügelschlag im Amazonas nicht der Beweis dafür, dass eine Abhängigkeit zwischen Ursachen und Wirkungen nicht existiert? Oft können wir überhaupt keinen Zusammenhang zwischen Wirkung und Ursache erkennen: Es geschieht etwas, doch weil wir uns das Geschehen nicht erklären können, nennen wir es Zufall. Insofern scheint die formulierte Frage mehr als berechtigt und spiegelt ein Teil unseres aktuellen Weltbildes wider.

Die Antwort auf diese Frage gibt Nagarjuna im Vers 1.13 einschließlich einer sich daraus ergebenden Frage. Hieran wird sichtbar, dass der Text als Argumentation angelegt ist, um den Geist eines Andersdenkenden zu erreichen. Denn nur wenn wir die Fragen unserer ärgsten argumentativen Gegner beantworten können, verändert sich ihr Geist. Dies entspricht der Vorgehensweise der tibetischen Debatte, die bis heute in Klöstern gepflegt wird.

Vers 1.13

Das Wesen einer Wirkung ist in ihren beziehungsmäßigen Bedingungen angelegt,
die jedoch kein Selbst-sein besitzen.
Wie aber kann eine Wirkung aus Bedingungen entstehen,
die selbst nicht aus sich heraus existieren und insofern wesenlos sind?

The effect has the relational condition, but the relational conditions have no self-possessing natures. How can an effect, arising from no self-possessing natures, have the relational condition? (Inada 1970)

The effect is made of conditions, but the conditions are themselves not self-made. How can that effect made of conditions (arise) from what is not self-made? (Kalupahana 1986)

If the effect's essence is the conditions, but the conditions don't have their own essence, how could an effect whose essence is the conditions comes from something that is essenceless? (Garfield 1995)

Eine Frucht besteht aus Bedingungen; die Bedingungen aber bestehen nicht aus sich selbst. Wie sollte eine Frucht wohl aus Bedingungen bestehen, die ihrerseits nicht aus sich selbst bestehen? (Weber/Back 1997)

Entstünde die Wirkung aus Ursachen, wären diese Ursachen substanzlos. Entstünden sie aber aus solchem Substanzlosem, wie stellt man sich dann vor, dass sie aus Ursachen entstünden? (Geldsetzer 2010)

Schlüssel-Begriffe:
the effect has = the effect is made of = the effect's essence is = die Frucht besteht aus = die Wirkung entsteht aus
no self-possessing nature = not self-made = no own essence = nicht aus sich heraus bestehen = Substanzlosem

Garfield bringt Nagarjunas Wortspiel vermutlich am elegantesten auf den Punkt: „If the effect's essence is in the condition, but the conditions don't have any own essence, how could the effects essence comes from something, that is essenceless?"

Im ersten Teil dieses Satzes beantwortet Nagarjuna die Frage, ob die Wirkung in den Bedingungen bereits enthalten sind mit den Worten: „Das Wesen der Wirkung ist in den beziehungsmäßigen Bedingungen angelegt." Auf eine Kurzformel gebracht bedeutet dies: Die Qualität der Wirkung entspricht der Qualität der Ursache. Beispielhaft: Aus einem Pflanzensamen kann kein Tier entstehen.

Doch wie als Mahnung fügt Nagarjuna hinzu: Glaubt ja nicht, dass die beziehungsmäßigen Bedingungen Selbst-sein hätten. Eine Essenz oder einen Kern der Ursachen ist nicht zu finden. Daher können sie auch nicht in eine Wirkung herüberwandern. Am Beispiel des Pflanzensamens bedeutet dies, dass dieser vollständig anders ist als die daraus entstehende Pflanze und dass die Pflanze kein Wesen oder Essenz des Samens enthält. Wenn aus dem Samen ein Keimling entsteht und daraus die Pflanze, ist der Samen vollständig vergangen. Nichts bleibt mehr davon übrig: Keine Essenz, kein Selbst-sein, kein Wesen.

Doch damit ergibt sich die berechtigte Frage: Wie kann eine Wirkung aus Bedingungen entstehen, die nicht aus sich heraus existieren und – mit Garfields Wortspiel – insofern wesenlos sind? Da scheint ein Widerspruch vorzulegen, der diejenigen unterstützt, die an das Wesen von Dingen, an deren Essenz glauben.

Vers 1.14

Die Konsequenz aus den Überlegungen ist:
Wirkungen sind weder in Bedingungen
noch in Nicht-Bedingungen enthalten.
Wie könnten dann Bedingungen wie Nicht-Bedingungen inhärent existieren?

Consequently, the effect is neither with relational nor without non-relational condition. Since the effect has no existing status, wherein are the relational and non-relational conditions? (Inada 1970)

An effect made either of conditions or of non-conditions is, therefore, not evident. Because of the absence of the effect, where could conditions or non-conditions be evident? (Kalupahana 1986)

Therefore, neither with conditions as their essence nor with non-conditions as their essence are there any effects. If there are no such effects, how could conditions or non-conditions be evident? (Garfield 1995)

Deshalb besteht eine Frucht weder aus Bedingungen noch aus Nicht-Bedingungen. Gibt es aber keine Frucht, wo findet man denn dann Bedingungen und Nicht-Bedingungen? (Weber/Back 1997)

Wirkungen entstehen nicht aus Ursachen und sie entstehen nicht aus dem, was keine Ursache ist. Weil es also keine Wirkungen gibt, gibt es auch keine Verursachung und Nicht-Verursachung. (Geldsetzer 2010)

Die Argumentation Nagarjunas ist radikal konsequent: Wirkungen sind weder in Ursachen oder Bedingungen noch in Nicht-Ursachen oder Nicht-Bedingungen explizit im Form eines Wesens, einer Essenz oder einer andersartigen inhärenten, aus sich selbst heraus existierenden Substanz enthalten. Das Leer-sein von inhärenter Existenz ist eine Folge aus der praktischen Erfahrung, dass der Pflanzensamen nicht mehr in der Pflanze enthalten, sondern sich vielmehr vollständig auflöst, wenn daraus die Pflanze entsteht. Wir finden nichts mehr von dem Pflanzensamen und auch keine Essenz des Samens.

Empiriker würden heute dem entgegen halten, dass man doch die genetischen Anlagen des Pflanzensamens in der entstandenen Pflanze findet und insofern Nagarjunas Argumentation mindestens unvollständig ist. Dies scheint ein starkes Argument zu sein dafür, dass es eine Essenz geben könnte, die genetisch weiter getragen wird.

Betrachten wir zur Analyse des Argumentes die mit der Zeit stattfindenden genetischen Veränderungen: Die Menschen vor einer Millionen Jahre oder 500.000 Jahren waren sehr verschieden von uns heutigen Menschen. Wären die Gene die aus sich heraus existierende Essenz, die weiter getragen wird von Ursachen auf Wirkungen, dann müsste diese Essenz über viele Millionen Jahre identisch sein. Denn aus sich heraus zu existieren bedeutet, keiner Veränderung zu unterliegen. Das ist aber ganz offensichtlich nicht der Fall. Ist das betrachtete Zeitfenster groß genug, finden sich an jedem Phänomen, selbst am Universum, deutliche Zeichen der Veränderung. Jede Veränderung ist ein offensichtliches Zeichen dafür, dass die Phänomene leer davon sind, aus sich heraus zu existieren.

Da Wirkungen eine solche Essenz nicht besitzen, folgt unmittelbar, dass die Bedingungen und auch Nicht-Bedingungen ebenfalls eine solche Essenz nicht besitzen können und dementsprechend leer von inhärenter Existenz sind.

Die Kommentierung dieser letzten vier Verse durch Bernhard Weber-Brosamer und Dieter Back ist besonders erstaunlich. Sie schreiben: „Die letzten vier Verse sind dem Bedingten, also dem Ergebnis gewidmet. Von welcher Seite man die Sache betrachtet, vom Ergebnis her oder von den Bedingungen her, eine Beziehung zwischen einer Bedingung und einem Bedingten ist nicht herzustellen. Damit wird für das Denken Nagarjunas folgendes deutlich: 1. Sein Seinsbegriff ist absolut, umfassend und statisch. Daraus folgt 2., dass ein Werden (bhava) und damit jede Veränderung eines Seienden für ihn ausgeschlossen ist."

Diese Interpretation ist Unsinn. Nagarjuna sieht gerade in der Beziehung der sich ständig verändernden Phänomene die Ursache für das Leer-sein dieser von inhärenter Existenz. Diese Beispiel zeigt, dass westliche Indologen oft grundlegend falsch in ihrer übersetzenden Interpretation denken, weil sie keine Unterweisung durch buddhistische Gelehrte erfahren haben, die diese Aspekte nicht nur intellektuell durchdacht, sondern vor allem meditiert haben. Sanskrit oder Tibetisch zu beherrschen reicht nicht aus, um einen Text inhaltlich zu verstehen. Es kommt auf die Beziehungen an, die erst durch Erläuterungen buddhistischer Gelehrten möglich werden.

Man könnte nun annehmen, dass Nagarjuna sein Ziel erreicht und ausreichend belegt hat, dass kein Phänomen aus sich heraus existiert. Aber weil er nur zu gut weiß, dass wir immer wieder in den Sog des aus sich selbst heraus existierenden ICH gezogen werden – sichtbar an den vielen Meinungsverschiedenheiten, Konflikten, Hierarchien und anderen gesellschaftlichen Strukturen – legt er in den nachfolgenden sechsundzwanzig Kapitel das Leer-sein von inhärenter Existenz weiter detailliert dar.

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