Wenn sich der Geist vom Körper löst

  • Mittwoch, 14 Mai 2014 00:00
Wenn sich der Geist vom Körper löst

Geshe Pema Samten entschloss sich mit zwanzig Jahren Mönch zu werden und trat in das Tashi Dargye Kloster in Osttibet ein. Zwei Jahre später ging er ins indische Exil und studierte an der Klosteruniversität Sera-Je, wo er den höchsten akademischen Grad des Lharampageshe erhielt. Danach kehrte er ins Tashi-Dargye Kloster zurück, dessen Abt er bis heute ist. Unter seiner Leitung wurde das Kloster in den vergangenen Jahren wieder aufgebaut. 2003 kam Geshe-la auf Anregung des Dalai Lama nach Hamburg und unterrichtet seither am Tibetischen Zentrum in Hamburg sowie seit 2005 am Tibet-Zentrum Samten Dargye in Hannover. Im vorliegenden Essay beschreibt er die Prozesse während des Sterbens. Die von seinem Schüler Frank Dick angefertigte Übersetzung wurde für diese Veröffentlichung sprachlich überarbeitet und durch Zwischenüberschriften strukturiert.

In den buddhistischen Schriften, speziell denen des Tantra, werden die Stadien, die der Geist beim Sterben durchläuft, sehr genau erklärt. Das Wissen um diese Prozesse erleichtert unseren Umgang mit dem eigenen Tod, weil der Mythos Tod dadurch seine Sinnlosigkeit und Dramatik verliert. Dies kann uns helfen, die Angst vor dem Sterben zu mildern oder gar zu überwinden.

Die tantrischen Beschreibungen gehen davon aus, dass der Geist mit dem Sterben des Körpers nicht endgültig vergeht, sondern dass der Geist den Körper am Ende verlässt. Diese Vorstellung basiert auf dem grundlegenden Axiom des Buddhismus, dass der Geist ein Kontinuum ist, ohne Anfang und ohne Ende. 

Die tantrischen Schriften beschreiben insgesamt acht Phasen der Auflösung, die wir auch in zwei Gruppen unterteilen können: Jene Phänomene, die das offensichtliche und sichtbare Erleben des Sterbens beschreiben und solche, die sehr subtile Veränderungen und Auflösungsprozesse darstellen.

Im Sterben löst sich der Körper auf 

Aus buddhistischer Sicht besteht der Körper aus vier Elementen, die im Prozess des Sterbens nacheinander degenerieren, was leicht von außen beobachtet werden kann. 

Das Feste des Körpers, wie Knochen und Fleisch, wird vom Erdelement gebildet. Das Wasserelement umschreibt die verschiedenen Flüssigkeiten wie Blut und andere Körpersäfte. Das Feuerelement wiederum entspricht der Energie, die wir im Körper als Wärme fühlen. Das Windelement ist Ausdruck aller Bewegungen wie dem Fluss des Atems. 

Im Sterbeprozess lösen sich diese Elemente nacheinander auf. Zunächst löst sich das Erdelement in das Wasserelement auf. Danach geht das Wasserelement in das Feuerelement über, welches dann für eine Weile dominiert. Schließlich verschwindet auch das Feuerelement und es folgt die subtile Degenerationsphase des Windes, die mit feinstofflichen inneren Prozessen einhergeht.

Es gibt viele äußere Anzeichen, die uns darauf hinweisen, wann sich ein Sterbender in welcher Phase befindet. Während sich das Erdelement auflöst, kann der oder die Sterbende sich kaum mehr selbst bewegen, wird aufs Bett gedrückt und spürt eine große Schwere. Er oder sie hat das Gefühl, dass die Glieder dünner werden, die Kraft nachlässt und die Augen können nur noch schwer auf gehalten werden. 

Mit der Auflösung des Wasserelementes fühlt der oder die Sterbende einen großen Durst. Die Schleimhäute trocknen aus, Rachen und Nase schmerzen aufgrund der Trockenheit und der oder die Sterbende kann kaum noch etwas hören. 

Während das Feuerelement verschwindet kriecht Kälte langsam in den Körper hinein, meist zunächst von den Gliedmaßen wie Füßen und Händen bis in den Rumpf des Körpers. Gleichzeitig kommt die Verdauung zum erliegen, ebenso das Riechen. Am Ende ist nur noch ein letzter Rest Wärme im Bereich des Herzens übrig. Der körperliche Tod ist fast erreicht.

In der letzten Phase des Sterbens löst sich das Windelement auf. Das konzeptuelle Denken auf der groben Ebene, das auf die peripheren Energien etwa im Gehirn angewiesen ist, hört auf. Wir werden bewusstlos und die geistige Sinneskraft ist nur noch in subtiler Form vorhanden. Dem oder der Sterbenden erscheinen jetzt innere Visionen, beispielsweise farbige Träume. Die äußere Atmung setzt nach einigen langen Atemzügen aus. Das Herz hört auf zu schlagen, das Blut steht still. Jede Bewegung im Körper kommt zum Erliegen. Damit ist der körperliche Tod erreicht, den die westliche Medizin mit dem Gehirntod gleichsetzt. 

Aus buddhistischer Sicht ist der Tod der Person aber noch nicht erreicht, weil zu diesem Zeitpunkt sich der Geist noch nicht vom Körper getrennt hat.

Innere Erscheinungen während des körperlichen Sterbens

Der körperliche Verfall und das körperliche Sterben gehen einher mit inneren Erscheinungen, die nur der Sterbende selber erfahren kann: 

Während das Erdelement in das Wasserelement übergeht, nimmt der Sterbende eine Art Fata Morgana wahr, so als würde man in der Hitze der Wüste eine Oase in der Ferne sehen.

Löst sich das Wasserelement auf und übernimmt das Feuerelement die Regie, sieht man als innere Erscheinung Rauchschwaden, die in den Raum empor steigen. 

Verschwindet das Feuerelement und prägt das Windelement die verbleibende Zeit, glaubt der oder die Sterbende einen Funkenflug zu sehen, so als ob der Wind das Feuer mit aller Kraft ausblasen würde. 

Wenn das Windelement in das so genannte Element des Bewusstseins übergeht, wird dies innerlich wie ein flackerndes Kerzenlicht wahrgenommen, so als stünde eine Butterlampe alleine in einem absolut dunklen Raum. 

Im weiteren Verlauf des Sterbeprozesses setzen nun subtilere Prozesse der sogenannten inneren Atmung ein, die von außen nicht beobachtbar sind, weshalb die westliche Medizin diese nicht messen kann und nicht kennt.

Der subtile Sterbeprozess nach dem körperlichen Tod

Um diese subtilen Sterbeprozesse zu verstehen, brauchen wir eine Verständnis über die Energiekanäle in jedem Körper. Nach dem buddhistischen Tantra wie auch nach dem Yogasystem ist der materielle Körper von einem feinstofflichen Körper durchzogen, der aus feinstofflichen Kanälen, den Nadis besteht. Dort zirkuliert die Windenergie (Sanskrit:Prana), die der Lebensenergie eines Menschen entspricht. Zudem werden im Tantra energetische Tropfen beschrieben: Am Scheitel befindet sich ein weißer Tropfen, am Nabel ein roter Tropfen und in der Herzregion befindet sich der äußerst-subtile Tropfen, in denen bestimmte Energien, die das Leben des Körpers aufrecht erhalten, gebündelt sind. 

Während des Lebens trägt die Windenergie, die in den Nadis zirkuliert, den Geist, so wie ein Pferd einen Reiter trägt. Während der subtilen Sterbeprozesse verlagert sich die Windenergie von der Peripherie zur Körpermitte, bis sie nur noch in drei Kanälen fließt: Im Zentralkanal, der entlang der Wirbelsäule zwischen dem Scheitel und dem Nabel verläuft und in den beiden anliegenden Nebenkanälen, die mit dem Zentralkanal oben und unten verbunden sind.

In dieser Phase des Sterbens tritt die Windenergie zunächst von oben aus den Nebenkanälen in den Zentralkanal ein. Dabei nimmt der Sterbende eine weiße Erscheinung wie ein helles Mondlicht in tief schwarzer Nacht wahr, denn die Windenergie bewegt nun den weißen Tropfen in Richtung Herz. Schon bald fließt die Windenergie auch von unten aus den Nebenkanälen in den Zentralkanal und die Person sieht eine rötliche Erscheinung wie bei einem wunderbaren, intensiven Sonnenuntergang, weil nun der rote Tropfen sich Richtung Herz bewegt. Treffen die beiden Tropfen am Herzen aufeinander, erlebt der oder die Sterbende eine dunkle oder schwarze Erscheinung, die als das „Nahe Erreichen“ bezeichnet wird, weil der endgültige Tod der Person jetzt nahe ist. Diese schwarze Erscheinung wird wie eine tiefe Bewusstlosigkeit oder Ohnmacht wahrgenommen.

In der letzten Phase des subtilen Sterbeprozesses kann der oder die Sterbende eine angenehme Erscheinung erleben, die als „Klares Licht“ bezeichnet wird. Dieses Licht ist so klar und sauber wie das Licht an einem klaren Herbsttag auf dem Gipfel eines Berges. Auf der Grundlage äußerst subtiler Energien, die ihren Sitz in der Nähe des Herzens haben, manifestiert sich dabei der subtilste Geisteszustand, der niemals vergeht und alle zukünftigen Leben durchzieht. Das „Klare Licht“ ist dies die Essenz des Geistes, die allen Prozessen des Samsara und Nirvana zugrunde liegt und die wesentlich subtiler ist als die sinnlichen und konzeptuellen Zustände des bewussten Geistes.

Alle fühlenden Wesen, jeder Mensch hat dieses äußerste subtile Bewusstsein des „Klaren Lichtes“, auch während des ganz normalen Leben. Doch wird uns dieses subtile Bewusstsein im normalen Leben nicht bewusst, weil wir in der Regel keinen Zugang zu dieser subtilsten Ebene des Geistes finden. Grobe konzeptuelle Geisteszustande wie Hass, Gier, Unwissenheit und andere Geistesfaktoren überdecken das subtilste Bewusstsein, weshalb wir an Konzepten hängen. 

Im Sterbeprozess, währenddessen alle Konzepte und Gedanken verschwinden, besteht die Möglichkeit, diese subtilste Ebene des Geistes wahrzunehmen und das Leer-Sein aller Phänomene, einschließlich des eigenen Geistes, unmittelbar zu erfahren. Jedem Wesen erscheint im Tod das Klare Licht. Doch diejenigen, die nicht oder kaum meditiert haben, nehmen das Klare Licht nur als Abwesenheit von Objekten oder Konzepten wahr. Dadurch empfinden sie Angst, was wiederum ihr Anhaften an Konzepten verstärkt. 

Um das Klare Licht wahrnehmen zu können bedarf es einer intensiven Erfahrung über den eigenen Geist, die nur in tiefgründigen Meditation während des Lebens erlangt werden können. Daher können erfahrene Meditierende das Klare Licht erkennen und für ihre weitere Meditation nutzen. Sie erleben das Klare Licht als eine unmittelbar Weisheit über das Leer-sein aller Phänomene von inhärenter Existenz, jener Weisheit, die im Buddhismus als das eigentliche und stärkste Mittel zur Befreiung des Geistes von Leid angesehen wird.

Weit fortgeschrittene Yogis können während des gesamten Sterbeprozesses, der Auflösung der groben und subtilen Ebenen und Energien, meditieren. Zu Lebzeiten haben sie sich in den tantrischen Meditationen die Stufen des Todesprozesses wieder und wieder bewusst gemacht. Zunächst auf der Ebene der Imagination, später sogar als reale Erfahrung. Wenn dann tatsächlich die Zeichen des Sterbeprozesses auftreten, sind fortgeschrittene Meditierende bestens vorbereitet, um das subtile Bewusstsein des Klaren Lichts zur Meditation zu nutzen. Es braucht viel Erfahrung und Übung, um diesen Geisteszustand zu erreichen und das Klare Licht als Objekt der Meditation nutzen zu können.

Das richtige Visum bekommen

Es sind außergewöhnliche Menschen, die diese Meditation über die endgültige Realität aller Phänomene im Klaren Licht praktizieren können. Sie sind manchmal in der Lage, noch sieben Tage im Zustand des Klaren Lichtes zu verweilen, auch wenn die äußere Atmung bereits ausgesetzt hat und der physische Tod schon längst eingetreten ist. In ihrem Herzen aber ist noch jene subtile Energie aktiv, die ausreicht, um das Klare Licht zu erkennen. Dies zeigt sich daran, dass der Körper in dieser Zeit noch keine Verwesungserscheinungen aufweist. Es heißt, dass der Dalai Lama diese Prozesse beherrscht. Da die Tibeter glauben, dass er und andere Meister den Tod in Meditation umwandeln können, genießen sie bei ihnen als Tulkus höchste Verehrung. 

Im Sterbeprozess wird dem Betroffenen langsam klar, wohin die Reise geht und wie es weitergeht. Dies ist vergleichbar mit einer Reise in ein Land, für das man Visum braucht. Jeder und jede von uns hat in diesem Leben die Verantwortung dafür, sich rechtzeitig um ein Visum zu kümmern, so dass der Geist eine heilsame Reise unternehmen kann. Bemühen wir uns nicht, werden wir das Klare Licht im Sterbeprozess kaum als solches erkennen. Vielmehr werden wir nur von unseren karmischen Anlagen weiter in einen Daseinskreislauf des Leids getrieben. Dann ist es zu spät, um noch ein Visa für eine heilsame Reise zu erhalten und man muss nehmen was kommt. Die karmischen Anlagen führen uns ins nächste körperliche Leben. Welche Qualitäten des Karma wirksam werden, an welchem Ort und unter welchen Umstände ein erneutes Leben stattfindet, hängt ganz wesentlich davon ab, wie der Geisteszustand kurz vor der Bewusstlosigkeit beschaffen ist.

Der letzte Schritt des Sterbeprozesses ist, dass der äußerst subtile Geist zusammen mit dem äußerst subtilen Wind aus dem Körper heraustritt. Der Geist verlässt den Körper. Dann erst beginnt der Körper zu verwesen, da er nur noch eine biologische Hülle ohne Geist ist.

Der weitere Weg 

Nachdem der Geist den Körper verlassen hat, beginnen weitere Prozesse, die denen des Sterbeprozesses ähnlich sind und auf das kommende Leben hinweisen. Diese Prozesse verlaufen im Vergleich zum Sterben in umgekehrter Reihenfolge. Man wird also zunächst eine dunkle Erscheinung sehen, dann eine rote und weiße Erscheinung usw. Die Windenergie manifestiert sich als subtiler Körper eines Zwischenzustandes, den wir Bardo nennen, was wörtlich übersetzt „zwischen den Leben“ bedeutet. Es ist ein feinstofflicher Körper aus Windenergie und Aggregaten, der als Grundlage für eine Person und für einen Körper dienen kann.

Das Bardowesen ist, wenn es sich um ein gewöhnliches Wesen handelt, auf der Suche nach einer neuen Geburt und bewegt sich sehr schnell von einem Ort zum anderen. Weil es im Sterbeprozess den Verlust des Körpers als Mangel begreift, entsteht eine karmische Energie, die den starken Wunsch nach erneuter Geburt entstehen lässt. Dieser Bardo-Prozess kann bis zu 42 Tage dauern.

Haben wir gutes Karma im Leben angesammelt, findet das Bardowesen einen guten Geburtsort und wir können wieder als Mensch geboren werden. Bestimmte karmische Beziehungen bewirken, dass wir zu den Eltern finden, die zu unserem Karma passen. Die eigentliche Geburt findet im Moment der sexuellen Vereinigung der Eltern statt. Das Bardowesen verbindet sich in seinem feinstofflichen Körper während des Geschlechtsaktes mit den Keimsubstanzen – Samen und Ei - der Eltern, woraus sich der Fötus entwickelt. Dieses neue Wesen ist dann Träger der karmischen Anlagen aus früheren Leben.

Nach den Lehren Buddhas liegt die Ursache für Glück im mitfühlenden Denken und Handeln. Sicher gibt es auch äußere Umstande, die uns dabei helfen. Die eigentliche Ursache für Glück jedoch liegt in unserem Geist. In logischer Konsequenz entsteht ein leidvolles Leben aufgrund nicht-mitfühlender Hand-lungen und Emotionen. Unser Ziel im Leben sollte daher sein, Heilsames zu stärken und Schädigendes in uns zu verringern, es im besten Fall vollständig aufzugeben. Dann können wir dem Tod ruhig entgegen sehen.

Letzte Änderung am Dienstag, 13 Oktober 2020 15:46

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